Hausers Zimmer - Roman
Ernährungsweise: Vertilgt im Verhältnis zum Körpergewicht beträchtliche Mengen an Hartweizenprodukten.« Später wollte er noch auf eine Party in der Danckelmannstraße gehen.
Wiebke und Klaus führten derweil eine unverständliche Diskussion, bei der es um Menschen ging, die sie Neue Wilde nannten, die Klaus aber als Alten Hut bezeichnete und die irgendwo ausgestellt werden sollten. Erst hatte ich gehofft, es ginge um Geographi e – um irgendein exotisches Land mit indianischer Urbevölkerung, dann schwante mir aber, dass doch wieder Kunst im Spiel war. Kaum hatte ich die letzte Nudel gegessen, stand ich auf.
»Kein Müsliquark?«
Ich schüttelte den Kopf, war schon halb im Flur. Trotz geschlossener Tür roch es hier nach Rauc h – Falks Selbstgedrehte.
In meinem Zimmer hielt ich es nicht lange aus. Ich ging nach unten, lief an Erwins und Karls Verschlag auf unserem Parkplatz und am Mottenmuseum vorbei; schon war ich im Rattenloch. Dort setzte ich mich auf die Ariel-Tonne und sah zu, wie ein kokelnder alter Schulranzen zu meinen Füßen langsam schwarz wurde. Lummerland ist abgebrann t … Ich entdeckte einen neuen Spruch: Wenn der Himmel auf die Erde käme, würde sie ihn auch zumauern.
Über mir Tauben, kurzes Aufflattern in den anthrazitfarbenen Himmel.
Ich schloss die Augen. Überall lauerte sie, unter der scheinbaren Stille, die Gefahr. Eine Gefahr, die man nicht riechen, nicht sehen und nicht hören konnte. Hatte nicht letztens im Stacheldraht , unserer Schülerzeitschrift, gestanden: »Während in der Sowjetunion Millionen Menschen nicht einmal Elektrizität haben, wird ein Sprengkopf nach dem anderen gebaut. Während in den USA Hunderttausende in Wohnwagensiedlungen im Niemandsland hausen, ohne Krankenversicherung, ohne Briefkasten, wird ein Sprengkopf nach dem anderen gebaut.«
Ich öffnete die Augen. Und sah einen hageren Mann um die fünfzig mit langem, schütterem graubraunem Haar und einem dünnen Spitzbärtchen herumstromern: den Grottenolk. Jetzt setzte er sich an das alte Klavie r – höchste Zeit zu gehen.
Wieder in meinem Zimmer legte ich mich mit meinem Lieblingsbuch, dem Atlas, aufs Bett. Die BRD war ein Zwerg mit dickem verwachsenem Fuß. Die DDR war ein Würmchen, das sich krümmte. Berlin war kaum sichtbar, ein Fleck Taubendreck.
Mir fiel ein, dass ich vor ein paar Jahren mit meinen Eltern bei einer Ausstellungseröffnung in der Akademie der Künste war und Wiebke mir eine Freundin aus England vorstellte. Dann machte mich die Engländerin mit ihrer Tochter bekannt, die so ähnlich wie »Zoo« hieß, und sagte zu ihr: »This is Julik a – from Germany.«
Ich protestierte: »No, no t … Germany. Berlin!«
Zoo antwortete: »Well, that is Germany.«
»No!«, sträubte ich mich.
Jahr für Jahr mussten wir diese Grenzübergänge und die düstere DDR passieren, um in Urlaub zu fahren, wie konnte Berlin dann zu Deutschland gehören? Das lag doch ganz woanders. Und sah auch ganz anders aus.
Mein Blick wanderte weiter, über Frankreich und über den atlantischen Ozean, bis nach Kanada, Alaska. Wie es wohl war, auf den Alëuten zu leben, dieser Inselgruppe auf der Datumsgrenze, unendlich weit entfernt? Die Alëuten sahen wie Rosinen aus. Ich fuhr mit meinen Fingerkuppen über die Inseln in meinem Atlas. Dann schaute ich mir Patagonien an, Feuerland und diese geheimnisvollen Inseln, von denen mein Bruder behauptete, sie seien nach ihm benannt worden.
Der Hauser war nicht da, und ich malte ein schwarzes Quadrat in mein Hauser-Heft.
Am nächsten Morgen, es war Sonntag, wachte ich von Falks Musik auf. Beim Aufstehen wurde seine Stereoanlage an- und erst kurz vorm Schlafengehen ausgestellt. Er schien die Plattennadel noch einmal zurückgesetzt zu haben, die merkwürdig-düsteren Klänge begannen von vorn: Irgendeine Scheibe von den Geisterfahrern oder Bauhaus war das. Falk hörte Platten gern mehrfach hintereinander, manchmal auch ein und dasselbe Stück, stundenlang. Er nahm dabei immer die gleiche Körperhaltung ein: Kopf aufgestützt auf beide Hände, angestrengt vor sich hinbrütend. Seitdem The Wiebkes and the Klauses seinen Bitten nachgegeben und ihm doch statt einem Musiklexikon eine Bassgitarre zum Geburtstag geschenkt hatten, meinte Falk, selber Klänge fabrizieren zu müssen. Er erwartete, dass ich ihm Komplimente machte, wenn er monoton Gothic- oder Dark Wave oder No Wave-Songs, oder wie er seine Musik so nannte, vor sich hinbrummte. Dazu spielte er, wie mir schien, drei
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