Hausers Zimmer - Roman
zu Chile, Ost-Patagonien liegt in Argentinien«, sprudelte ich hervor und fügte noch hinzu: »Und ist nicht Los Glaciares letztes Jahr von der UNESCO auf die Weltnaturerbeliste gesetzt worden?«
Herr Adán hatte mir mit wachsender Freude zugehört. Hinter mir drängelte eine Frau aus dem Mottenmuseum: »Wir ham hier nich Märchenstunde!«
Gern hätte ich noch gewusst, warum Herr Adán ausgerechnet aus dem schönen Patagonien nach Berlin gezogen wa r – das würde ich ihn nächstes Mal fragen. Fünf Minuten später sah ich den Vater von Serife und Filiz mit zwei Kumpels, die ich kannte, weil sie uns im Winter Bricketts lieferten, in die Peepshow gehen. Während ich dem gut gelaunten Herrn Söylesin so hinterhersah, dachte ich an das fürsorglich gekaufte Haarwuchsmittel in Frau Söylesins Tasche.
Am Nachmittag verkroch ich mich in einer Art Kabuff über den Regalen. Zwischen alten Koffern, Lampenschirmen in wildesten Sechzigerjahremustern und einigen furchtbaren Gipsarbeiten von Falk und mir, von denen sich Wiebke jedoch »um keinen Preis« trennen wollte, blätterte ich in meinem Atlas. Statt in Berlin meinen Kakteen beim Wachsen zuzuschauen, könnte ich über den Río Futaleufú schippern. Den Abend verbrachte ich am Fenster. Bei den meisten Nachbarn lief Dallas . Der Hauser war nicht da. Und ich hatte gehofft, er würde wieder Auf los geht’s los gucken oder Fliegen an seiner Hawaiitapete abklatschen. Wo war er bloß? Ich konnte nicht schlafen. Die Weihnachtsdekoration der Pechs flackerte immer noch.
An diesem Sonntag sahen wir einträchtig Die Sendung mit der Maus und staubten danach Kunstwerke ab. Nachdem der so genannte Schweinigel , eine rosafarbene Wabbelplastik mit braunen stachelartigen Ausläufern, staubfrei war (bei Wohnungen mit Ofenheizung ein utopisches Unterfangen) rief Wiebke: »Jetzt reicht’s!« Fünf Minuten später stand sie in einem bis zum Boden reichenden Mantelungetüm undefinierbarer Farbe und einer merkwürdigen Kappe vor uns und sah uns unternehmungslustig an: »Schuhe anziehen, Ausflug!«
» Semper fi «, rief Falk und salutierte. Eigentlich würde ich den Rest des Tages lieber mit dem Atlas auf meinem Matratzenlager und am Fensterbrett verbringen, den hawaiianischen Abendhimmel im Blick. Aber die Ablehnung von Kunstspaziergängen traf The Wiebkes and the Klauses, wie andere Eltern vielleicht die Ablehnung eines Kirchenbesuchs, ins Mark. Falk stand schon in Jeans und Parka bereit, Wiebke versuchte, ihm einen Schal umzubinden, was an Falks Größe und seiner konsequenten Weigerung, sich nach vorne zu beugen, scheiterte.
»Wo steckt ’n Klaus?«, wollte Falk wissen.
»Parfümiert sich noch«, meinte Wiebke verächtlich. Wir hörten Klaus’ federnde Schritte auf dem Parkett im Berliner Zimmer, und da stand er schon im Flur, im taubengrauen Anzug mit fliederfarbenem Schal. Nur ich war noch nicht fertig, ich versuchte, meinen Schal aus dem Parka-Ärmel zu zerren.
»Jule, wie wirst du erst sein, wenn du alt bist?«, seufzte Wiebke. Schließlich saßen wir im Auto, im Radio lief eine Sendung über den Beginn des Kalten Krieges, Wiebke und Klaus lauschten mit gespitzten Ohren unter ihren Puschelkappen, die si e – große Ausnahm e – im Partnerlook trugen. Wir machten oft Ausflüge in der Stadt. Wir stiefelten dann in Hinterhöfe, die auch nicht anders aussahen als unserer, suchten Künstler in Fabriketagen auf oder kramten bei Antiquitätenhändlern in Kreuzberg oder Neukölln. In einen Park oder in den Wald gingen wir nie, Natur war nach Klaus’ Auffassung überflüssiges »Grünzeug«. Wiebke und Klaus suchten gezielt die merkwürdigsten Höfe, Hallen, Remisen, Keller und Verschläge in der Stadt auf, um dort herumzustöbern und mit alten Fotografien, riesigen Schrauben, schweren Metallkugeln oder Bildern, auf denen nur eine Hand oder ein Fuß zu sehen war, wieder nach Hause zu fahren.
»Wo geht’s diesmal hin?«, gähnte Falk.
Er war gestern auf einem No Wave-Konzert gewesen und erst um sechs Uhr morgens nach Hause gekommen. Sein Gesicht war noch blasser als sonst.
»Nach Kreuzberg, zu Kabir.«
»Wer oder was ist das?«
»Schtt!« Klaus bedeutete mir und Falk, still zu sein. Wir hörten im Autoradio, dass Ronald Reagan Berlin besuchen würde. Vom 9. bis 11 . Juni sollte er in der Stadt sein und im Schloss Charlottenburg sowie am Checkpoint Charlie eine Rede halten. »Das passt dem so, seine Raketen hier bei uns zu parken«, murmelte Klaus.
»Ist der nicht letztes Jahr
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