Hausers Zimmer - Roman
angeschossen worden?«, fragte Falk mit einem Gähnen. Raketen waren langweilig, davon hört man jeden Tag. Attentate waren spannender. Wenn man Reagan im Fernsehen sah, sah er immer aus, als käme er gerade aus dem Urlaub. Es hatte ihn wohl nicht groß aus der Bahn geworfen.
»Ich bin ja keine Wirtschaftsexperti n …«, begann Wiebke. Niemand widersprach. Etwas gereizt ob dieses um sich greifenden Schweigens fuhr sie fort: »Aber diese Trickle-Down-Theorie ist das Dümmste, was ich je gehört habe. Also diese absurde Theorie, auf die sich Leute wie Reagan berufen, besagt, dass der Wohlstand der Reichen in die unteren Gesellschaftsschichten ›durchsickert‹. Als wäre das vergleichbar mit Niederschlagswasser oder so. Gesteinsschichten. Der Dünger erreicht auch die Wurzel.«
Bei diesem Vergleich runzelte Klaus die Stirn. Der angedeutete Ausdruck »die Wurzel des Volks« behagte mir auch nicht, aber mit Wiebke am Steuer sollte man keinen Streit riskieren. Außerdem hatte sie wahrscheinlich Recht mit ihrer Kritik dieser merkwürdigen Sickertheorie. Genauso gut könnte man behaupten, dass Armut hochsteigt, sich nach oben rankt und um sich greif t – wie Kletterpflanzen. Ich würde diese Climbing-up-Theorie mal in Politischer Weltkunde vorschlagen. Und um dem Problem der aufsteigenden und um sich greifenden Armut Herr zu werden, müsste man dann natürlich noch die Julonomics einführen. Als da wären: Anhebung der Steuern, Haushaltserhöhungen für alles Soziale, mehr Abgaben für die Industrie, Abbau der Rüstung.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Falk mich jetzt.
»Über die Julonomics.«
Einen Moment stutzte er, dann breitete sich ein diabolisches und gleichermaßen zärtliches Lächeln (diese Mischung bekam nur mein Bruder hin) auf seinem Gesicht aus.
»Lass uns später auf meinen Hochbett besprechen, ob die mit den Falkonomics kompatibel sind.« Er nahm meine Hand und drückte sie.
Schließlich parkten wir vor einer verwilderten Wiese. Einige bunte Holzhäuschen, die wie Zirkuswagen aussahen, standen hier herum. Eine Frau saß auf den Stufen und spielte Mundharmonika. Wir liefen auf ein Haus neben der Wiese zu, suchten in der Durchfahrt nach Klingelschildern, marschierten in den Hinterhof. Wiebke und Klaus schauten ratlos umher. Mir wurde langsam kalt. Mein Wollpulli sah wärmer aus, als er war, Wiebke hatte zu große Maschen gestrickt. Von einer Hauswand lief Wasser herab; die Mauer war schon ganz grün. Zwischen hohem Gebüsch konnte ich eine versiffte Couch und ein ausrangiertes Kettcar ausmachen. Gerade krabbelte eine Ratte auf den Fahrersitz. Sie war wirklich groß; mit ihrem Ludwig-Erhard-Bauch würde sie sogar die Rattenlochratten in die Flucht schlagen.
Wiebke und Klaus liefen ziellos umher. Beide hatten einen verlorenen Gesichtsausdruck, der mir auf mehr als nur die gegenwärtige Situation hinzudeuten schien. Schließlich gingen wir in den angrenzenden Hof und in noch einen. Und dann in noch einen. Mein Gott, würden wir hier je herausfinden? Wo waren wir? Was, in aller Welt, suchten sie? Für eine Sekunde wünschte ich mir zu sterben. Einfach so. Nicht mehr da sein, nicht mehr glücklich sein wollen, nichts mehr suchen müssen, nicht s – I’m so tire d … of al l … Wiebke und Klaus hielten sich wie Kinder an den Händen, blickten sich gegenseitig unsicher, aber auch erwartungsfroh an. Für eine Sekunde schossen mir Hänsel und Gretel durch den Kopf. Irgendwo hier, versteckt, wartete die Hexe in ihrem zerbombten Berliner Knusperhäuschen auf Kläuschen und Wibi. Für einen Moment spiegelten wir vier uns in einer Scheibe, die an eine Brandmauer gelehnt stand und mit Graffiti übersät war. Wie unterschiedlich wir doch aussahen, von dick (Wiebke) bis dünn (wir anderen drei), von sehr langen, gewellten roten Haaren (Wiebke), schwarzgefärbten Zotteln (Falk), blonden Langweilerhaaren (ich) zu hellblonden Strubbeln (Klaus).
»Wo ist es denn nun endlich?«, fragte Falk müde. Kunst wirkte auf ihn anders als auf The Wiebkes and the Klauses. Was sie aufputschte, schläferte ihn ein. Übellaunig blieb er vor einem stacheligen Gebüsch stehen. »Ich gehe nicht mehr weiter!«
»Dann verpasst du Kabi r – er schreibt wunderbare Geschichten und ist ein faszinierender Mensch!« Wiebke blickte Falk aufmunternd an und kniff ihm zur Bekräftigung ihrer Worte beherzt in den Oberarm. Sie machte das gern, mit Nachdruck in den Arm kneifen.
»Und jetzt wisst ihr nicht, in welchem Hinterhof dieser
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