Hausers Zimmer - Roman
aus welchem Land er kam. Wenn ich mich das trauen würde.
Frau Schwundtke brachte heute das Gespräch auf unsere zweiwöchige Klassenfahrt, die im nächsten Jahr stattfinden sollte. Es hatte dazu beim letzten Elternabend vor Weihnachten eine Abstimmung gegeben. Einige Eltern wollten, dass wir nach Italien fuhren, andere, dass wir innerhalb Deutschlands eine Reise mit mehreren Stationen zu »Orten des NS -Widerstands« machen würden. Mit knapper Mehrheit hatte sich die »Widerstandsgruppe« durchgesetzt. Wiebke war eine große Fürsprecherin dieser Reise, die gleichermaßen durch Ost- und Westdeutschland gehen sollte.
Ich war unschlüssig. Mich interessierte die DDR , aber mir graute vor täglichen Gedenkstättenbesuchen und langatmigen Belehrungen. Andererseits könnte so eine Bella-Italia-Reise mit meinen spaßsüchtigen Klassenkameraden auch sehr anstrengend werden. Ich wäre die Einzige, die keinen Bock auf Partys haben und die Italiener nicht alle »total süß« finden würde. Ich sah Melanie und Larissa schon aufgeregt durch die Flure unserer Herberge springen, in Panik, weil irgendein Perlonstrumpf eine Laufmasche hatte oder ein BH verschwunden war. Warum gab es keine Alternative zu Depri-Bildungsreise oder Knutsch-und-Fummelurlaub? Ich würde am liebsten nach Schottland fahren und mir den Ring of Brodgar und andere prähistorische Stätten ansehen. Oder nach Norwegen, wo wir eine Schiffstour durch einen der großen Fjorde machen würden. Und wenn es unbedingt sein musste, konnte man uns dabei etwas über Land und Leute erzählen. Die ganze Stunde wurde noch über die Abstimmung gesprochen. Endlich klingelte es zur Pause. Erleichtert sprang ich die Treppe hinunter.
»Deine Eltern sind soo scheiße!«, rief Melanie auf dem Hof und stellte sich breitbeinig vor mich hin. Sie steckte von Kopf bis Fuß in einer Art pinkfarbenem Strampelanzug, dazu trug sie zitronengelbe Moonboots mit großen silbernen Sternapplikationen darauf.
Ich fuhr sie an: »Dreitausendmal besser als dein e – deine doofe, dreitausendmal geliftete Mutter und dein blöde r …« Ich rang nach Worten. Irgendwie musste ich diesen Satz wirkungsvoll beenden. »Blöder, blöder Vate r … der sieht doch aus wie’n Pornodarsteller«, sagte ich schließlich. Ich hatte noch nie einen Pornodarsteller gesehe n – außer möglicherweise auf dreißig Meter Entfernung im nächtlichen Hauser-Fernseher. Als ich Melanies Vater auf unserem Schulsommerfest begegnet war, trug er weiße Leinenpluderhosen, ein violettes Knitterhemd und ein weißes Jackett mit lila Nadelstreifen. Dieser Aufzug war mir in Erinnerung geblieben. Darüber hinaus war er zu jeder Jahreszeit braun gebrannt und trug eine dicke Sportsonnenbrille auf der Nase, oder, noch lieber, hochgeschoben in sein nach hinten geföntes Haar. Aber vor allem hatte er so ein unerträgliches Siegerlächeln auf den Lippen, zum Davonlaufen. Wie Ronald Reagan. Oder eben wie ein Pornodarsteller.
Melanie spuckte mir ins Gesicht. Sogar ihr Speichel war rosa, stellte ich überrascht fest. Penetranter Himbeergeruch stieg mir in die Nase. Sie kaute von morgens bis abends Kaugummi. »Du bist doch total zurückgeblieben, so wie du aussiehst, wie ein Junge. So kriegst du nie einen ab.«
Sie grinste mich an. Das mit dem Jungen hatte sie wahrscheinlich gesagt, weil sie mich ein paar Mal auf dem Hof Dosenkicken gesehen hatte. Plötzlich stand Steffen neben mir und reichte mir ein Taschentuch. Ich wischte mir den süßlich riechenden Schmodder vom Gesicht.
Nachmittags sah ich den Hauser auf dem Hof hocken. Sein Platz zwischen Olkschem und Kanzschem Imperium schrumpfte zusehends. Er schraubte fluchend an einigen alten Bonanza-Rädern herum, die schon wie Teile der Urbanen Collage aussahen. Woher er die hatte? Im Rattenloch hatte ich die nicht gesehen. Irgendwann packte er Flickzeug und Pumpe zusammen und ging in den Hinteraufgang. In seiner Bude angekommen, warf er sich gleich, mit Lederstiefeln, aufs Bett, sah fern und aß Chipsletten. Dann zog er sich die Decke über den Kopf und schlief. Ich hatte sechs Stunden Schule (mit Biologie wären es sieben gewesen) auf dem Buckel. Ich würde auch gern öfter Chipsletten essen. Aber Wiebke fand Knabberzeug nicht gut; genauso wenig wie Fastfood. Vermutlich, weil sie Amerika auch nicht gut fand. Wegen der Todesstrafe, der Raketen und des fetten Essens.
Auf dem Hof gingen zwei Ratten in Gutsherrenmanier spazieren. Später sah ich sie erst neben den Mülltonnen schlemmen und
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