Hausers Zimmer - Roman
Stunde, Geographie, sollten wir etwas über den Ostblock lernen. Wir schlugen unsere Schulatlanten auf, und Herr Piontkowski fragte uns nach den Hauptstädten einige Ostblockländer. Wir waren alle sehr schlecht, brachten Bukarest und Budapest durcheinander, manche glaubten, Sofia sei die Hauptstadt von Ungarn und Bukarest die von Bulgarien. Auch Steffen, der eine gute Allgemeinbildung besaß, hatte keinen Schimmer. Verwunderlich war es nicht: Der Ostblock war in unserem Diercke-Schulatlas in Einheitsfarbe gehalten, man musste sehr genau nachsehen, um die Ländergrenzen zu erkennen. Wir redeten fast nie von einzelnen Staaten, sondern grundsätzlich nur vom Ostblock. Wenn Oma Helene von dem Russen sprach, klang das nicht viel anders. Trotz unserer Polenpakete hatte ich mich im Atlas nie weiter in das riesige rosafarbene Reich vorgewagt. Von Westeuropa hatte ich auch nicht viel mehr Ahnun g – vielleicht weil ich, wenn ich auf Reisen im Kopf ging, vom ewigen Ost-West-Konflikt Abstand nehmen wollte.
Leider guckten wir bei unserem Jeanslehrer, Herrn Piontkowski, von seinen Anhängern und Verehrerinnen Pionti genannt, nie auf die geographische Europakarte, sondern nur auf die politische. Und da hatte, frei nach dem Diercke-Stalin-Pakt, die Sowjetunion höchst erfolgreich alle Zwischentöne und Verschiedenheiten, Tausende von Kilometern, Ostseestrände und Pusztasteppen, Großstädte und Berglandschaften, Prag und Masuren, Albanien und Sankt Petersburg in ihr immergleiches Rosarot tunken dürfen.
Danzig, Bresla u – wir wussten nicht, wo diese Städte lagen, wir zuckten die Schultern. Wir wussten, die Frauen auf der Straße, die auf ihre leeren Kochtöpfe schlugen, die waren nur zwei Zentimeter entfernt, aber so spontan unser Mitgefühl angesichts der tristen Fernsehbilder war, so wenig Ahnung hatten wir vom Nachbarland. Als ich Wiebke später davon berichtete, sagte sie nur: »Und du kanntest auch keine der Hauptstädte? Und so jemand hat eine Eins in Geographie? Was schimpfst du denn über den Pionti, du lernst doch auch nur die Hauptstädte irgendwelcher exotischen südamerikanischen Länder oder pazifischen Inselgruppen auswendi g – oder?« Schweigend half ich ihr beim Abwasch.
Später kamen unsere »ausländischen Mitschülerinnen aus Arbeiterfamilien«, wie Klaus sie nannte, zu Isa und mir, den »höheren Töchtern«, wie Wiebke uns nannte. Und Sena und Pepita halfen uns wieder einmal mit den Hausarbeiten.
Heute war Peter Weiss in Stockholm gestorben. Wiebke stand vor einem ihrer Bücherregale auf der Leiter und brachte ihre umfangreiche Peter-Weiss-Sammlung herunter. Klaus lag in seinem Lieblingssessel, umgeben von Büchern und Zeitungen. Ich spürte, sie wollten allein sein.
»Anfang des Jahres hatte er doch erst den Bremer Literaturpreis gewonnen,« sagte er leise zu Wiebke. Wiebke brummte zustimmend. »Und das obwohl einige Rezensenten den dritten Teil der Ästhetik im letzten Jahr ja in Grund und Boden gestampft hatten, du erinnerst dich, Ueding in der FA Z …«
»In der FAZ stand aber auch etwas Wahres«, ereiferte sich Klaus. »Nämlich, dass Peter Weiss ein deutscher Schriftsteller sei, der an Deutschland krank wurde.« Er machte eine Kunstpause.
Ich überlegte, ob ich den Satz für banal oder schlau halten sollte. In jedem Fall kam die Silbe »deutsch« oft darin vor.
»Und der, wie es hieß, bis zur letzten Zeile ringen wird mit seiner Geschichte, seiner Kultur, seiner Sprache«, fuhr Klaus schließlich fort.
»Ach Gottchen, ist das ironisch gemeint«? Falk war herangeschluft und stand hinter mir.
Klaus guckte ärgerlich auf: »Wieso denn ironisch, natürlich nicht, es geht um Deutschland!«
Falk gähnte, machte eine abwinkende Handbewegung und steuerte in Richtung Küche. Ich ging zu Aldi und sollte noch Brot, Obst und Konserven zu Erwin und Karl auf den Parkplatz bringen.
Vorher machte ich einen Umweg zur Apotheke, um mir dieses Mal die ganz besonders lärmabweisenden Ohropax, also die, von denen Herr Adán etwas über fallende Bomben gesagt hatte, zu kaufen. Leider war er heute nicht da, sonst hätte ich ihn nach den Bomben-Ohropax gefrag t – und, wenn nicht zu viele Leute dagewesen wären, warum er diesen Vergleich gewählt hatte.
Abends lag ich im Bett und probierte die neuen Ohropax aus. Sie waren knallblau und sahen wie Drogen au s – zumindest wie ich mir Drogen vorstellte. Sie rochen auch sehr synthetisch.
Das Geklapper von Klaus’ Schreibmaschine hörte ich nicht mehr. Oder
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