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Hausverbot

Hausverbot

Titel: Hausverbot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mariola Brillowska
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katastrophal. Damit die Bürger nicht sofort alles aufkauften, sobald ein Laden beliefert wurde, gab es strenge Rationierung für alle Lebensmittel und sonstige Produkte. Schon vor meiner Abreise hatte man Fleisch, Butter, Zucker und Toilettenpapier nur gegen Vorlage von Marken bekommen. Einem erwachsenen Polen stand ein monatliches Kontingent von zwei Kilo Fleisch, zweihundertfünfzig Gramm Butter, einem Kilo Zucker und zwei Rollen Toilettenpapier zur Verfügung. Alle anderen Waren konnte man ohne Marken erwerben, vorausgesetzt, sie waren vorrätig. Meistens aber waren die Regale in den Läden leer. Egal, wonach man fragte, meistens antworteten die Verkäuferinnen mit: Nie ma , was Gibt’s nicht bedeutete. Die Leute kauften alles auf Vorrat, zum Tauschen oder für den Schwarzmarkthandel. Die Verkäuferinnen konnten nie sagen, was, wann und wie viel demnächst geliefert werden sollte. Gelangweilt sprachen sie den ganzen Tag immer den gleichen Satz: Nie ma . Dennoch war Nie ma präziser ausgedrückt als Ausverkauft . Kabarettisten schlugen vor, die Bürger sollten ihre im Keller gehamsterten Kartoffeln rot anmalen und sie als Tomaten verspeisen. Aber seit dem Krieg, wie der Kriegszustand abgekürzt bezeichnet wurde, gab es nicht mal mehr Kartoffeln. Wasser, Strom und Heizung wurden oft für ein paar Stunden aus Spargründen in ganzen Stadtteilen abgestellt. Am Sonntag durften keine Privatautos auf den Straßen fahren. Am Montag, Mittwoch und Freitag verkehrten PeKaWes mit geraden Nummernschildern. Am Dienstag, Donnerstag und Samstag die mit den ungeraden. Wobei der Samstag ein normaler Arbeitstag war. Behörden und Fabriken sowie Kindergärten, Schulen, Universitäten und Kantinen waren am Samstag in Betrieb. Ich hatte echt Horror davor, wieder in Polen leben zu müssen. Deswegen verzichtete ich lieber auf Heimatbesuche. Vier Jahre lang wagte ich mich kein einziges Mal dahin zurück. Weil ich mich für das Leben im Exil entschieden hatte. Weil ich immer nur nach vorne guckte. Weil ich die Zukunft vorzog. Weil ich die Vergangenheit verachtete. Und weil ich Angst hatte, dass ich nicht mehr zurück nach Deutschland reisen dürfte. Mit dieser Haltung konnte ich meine Melancholie unterdrücken, die Erinnerungen vertreiben, die Sehnsucht in Schach halten.
    1985 kamen die Emotionen dann doch hoch. Es war Dezember. Weihnachten stand vor der Tür, und ich hatte plötzlich einen wahnsinnigen Jieper. Ich war sentimental, schwermütig, irgendwie regressiv. Mein Künstlerleben und die Tausend-Mark-Streiche interessierten mich auf einmal nicht mehr, und ich wollte nur noch eins: nach Hause. Zwar dachte ich seit meiner Ausstellung im Vorwerkstift, dass ich endgültig in Hamburg angekommen wäre. Aber anscheinend hatte diese Wahrnehmung getäuscht. Von heute auf morgen spürte ich in mir ein Unbehagen. Schon länger hatte ich nicht mehr geweint. An Anton dachte ich immer seltener. Nun schluchzte ich unerwartet los, als hätte ich Schluckauf von zwei Flaschen Wodka bekommen. Ich kriegte fast keine Luft. Dann wusste ich: Mir fehlt die Heimat. Ich musste unbedingt wieder dorthin, wo meine Wiege gestanden hatte. Ich musste zurück in die Gegend, wo ich aufgewachsen war. Auf einmal ließ mich der Gedanke nicht los, dass ich dort irgendwo am Strand nach einem Quickie mit Anton meinen Schlüpfer verloren hatte. Wie traurig. Mein armer Schlüpfer. Wie hatte ich ihn bloß vergessen können! Ich ließ ihn liegen. Die Welle kam. Die Welle ging. Den Schlüpfer begrub der Sand. Ich musste ihn suchen. Ich musste zurück an die Ostsee in die Danziger Bucht. Genau dorthin, wo es geschehen war. Im Wald über dem Strand schliefen die Wildschweine noch. Die Nacht kam. Die Wildschweine spazierten los. Sie betraten, ohne zu zögern, den Strand. Sie stöberten in den Müllkörben rum. Sie gingen ins Wasser. Sie kamen sauber raus. Sie promenierten zurück in den Wald. Ich schaute zum Himmel auf. Eine Sternschnuppe fiel auf mich mit Effekt. Klatsch. Oha. Eine Welle aus Tränen machte mich nass. Hell war es bereits. Ich sah immer noch Strand. Fiebrig schaute ich in die Ferne. Ich checkte die Lage. Ich fing von vorne an. Mit dem Schlüpfer begann der Gedankengang. Meine Augen überprüften die Strandoberfläche weit und breit. Vom Schlüpfer keine Spur. Macht nichts. Der Schlüpfer war nur ein Detail, das mein Inneres auflöste. Ich weinte doch keinem Schlüpfer nach. Es war klar: Ich heulte dem Geist meiner jungfräulichen Liebe nach, der irgendwo über der

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