Hausverbot
Danziger Bucht verloren herumschwebte. Ich musste ihn finden und befreien, um selber frei zu werden.
Es war riskant. Trotzdem konnte ich nicht anders. Zwar hatte ich jetzt einen deutschen Pass, aber leider immer noch den gleichen Namen, das gleiche Geburtsdatum, den gleichen Geburtsort. Als man mir 1981 den Reisepass ausgehändigt hatte, musste ich im Gegenzug wie jeder ins Ausland Reisende den Personalausweis auf der Behörde deponieren. Durch diese Regelung hatte die polnische Regierung einen totalen Überblick, wer im Lande war und wer nicht. Nun wollte ich mit einem deutschen Pass nach Polen einreisen. Also brauchte ich ein Visum. Exil-Polen mit ausländischen Pässen bekamen ein Visum nur dann, wenn sie sich vorher ausbürgern ließen. Ausbürgern kostete einen Batzen Geld, besonders für Leute, die studiert hatten. Sie mussten tatsächlich die Studiengebühren an die polnische Regierung zurückerstatten. Mich betraf das ja nicht. Aber ich hatte sowieso nicht vor, mich ausbürgern zu lassen. Das war ein mühseliger Bürokratievorgang. Außerdem hielt ich eine Ausbürgerung für den Verlust der eigenen Identität. Ich war nun mal Polin. Ich musste nicht meine Nationalzugehörigkeit abgeben, nur weil ich temporär dem Geist meiner damaligen Zeit nachlief. Exil-Polen meines Kalibers ließen sich nicht ausbürgern. Sie beantragten ein Not-Visum, das ihnen zum Beispiel im Todesfall eines Familienmitglieds zustand. Dafür mussten sie in der polnischen Botschaft ein Telegramm vorlegen, in dem ein lebendes Familienmitglied über das verstorbene Auskunft gab. Ich brauchte so ein Telegramm. Ich wollte unbedingt an Weihnachten in Polen sein. Ich versuchte, Anton anzurufen. Ich wollte ihn beauftragen, das Telegramm zu schicken. Ich kam mehrere Tage nicht durch. Die Telefonleitung war immer belegt. Ich musste mit Anton so schnell wie möglich Kontakt aufnehmen. Die Zeit rannte mir davon. Ich schickte ihm deswegen ein Telegramm: TELEGRAFIERE DASS ONKEL GESTORBEN SEI LOLA . Anton telegrafierte ein paar Stunden später zurück: WELCHER ONKEL ? Anton hatte mich offenbar nicht verstanden. Wir hatten seit vier Jahren keinen Kontakt mehr. Dennoch hatte ich gehofft, dass ich wie früher meine Gedanken an ihn übertragen könnte. Leider war Anton nicht mehr derselbe, seit er sich mit Asia zusammengetan hatte. Dennoch war er rechtlich die einzige Person, die mir ein Todestelegramm aus der Heimat schicken konnte. Wir waren immer noch verheiratet. Sonst hatte ich dort keine Familie. Jedenfalls behauptete ich das immer, wenn man mich danach fragte. Was in Wahrheit nicht stimmte.
Es war gelogen, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Ich hatte den Andrzej damals vor der deutschen Botschaft angeschwindelt. Weil ich mich für meine Mutter schämte. Ich schämte mich noch mehr für meinen Vater. Von klein an wollte ich nicht so sein wie meine Eltern. Ich konnte bloß von denen nicht weg. Sie hatten Macht über mich. Ich war ja ihr Kind. Als solches hatte ich keine Rechte, keine Lobby, keinen Schutz. Ich hatte nicht mal Spielzeug, geschweige denn ein eigenes Zimmer. Wir wohnten alle in einem Raum. Das Bett teilte ich mir mit meiner Schwester. Meine Eltern arbeiteten den ganzen Tag, um Miete, Heizung, Essen und Kleidung zu bezahlen. Strom kostete nichts, weil mein Vater die Drehscheibe in dem Zähler durchbohrte. Er war ja von Beruf Elektriker. Für Spielzeug hatten meine Eltern kein Verständnis und kein Geld mehr über. Ich fand das nicht normal. Ich sehnte mich nach Spielzeug. Ich war ja ein normales Kind. Nur meine Eltern waren nicht normal. So sah ich das, als ich noch ganz klein war. Ich wusste auch, warum meine Eltern zu wenig Geld hatten. Weil mein Vater das Geld versoff. Er kam meistens spätnachts nach Hause und war betrunken. Nicht selten beschimpfte ihn meine Mutter am nächsten Tag dafür, woraufhin er ihr eine knallte. Ich verachtete meine Mutter zutiefst dafür, dass sie mit so einem Mann zusammenlebte. Ich hasste meinen Vater dafür, dass er mein Vater war. Und beiden Eltern gab ich die Schuld daran, dass sie arm waren. Ich wünschte mir meine ganze Kindheit lang, in ein Heim zu kommen. Am liebsten las ich Bücher über Waisenkinder. Natürlich war ich ein Schlüsselkind. Aber ich hatte nicht mal einen Schlüssel. Nach der Schule ging ich zum Hort und danach nach Hause. Um in die Wohnung reinzukommen, klingelte ich bei der Alkoholikerin Kalwasowa, die mir dann die Tür aufmachte.
Wir lebten bei ihr zur
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