Haut, so weiß wie Schnee
folgte ihr schlängelnder Rumpf und ihre kitzelnde Schwanzspitze. Im nächsten Moment war sie weg. Sie ist wirklich nicht lang, dachte Jonah, eben eine Babyschlange.
Er traute sich nicht weiterzugehen. Wenn die Schlange noch in der Nähe war, würde sie ihn vielleicht doch beißen. Sollte er um Hilfe rufen? Und wenn er die Schlange damit erschreckte? Er wartete noch eine Weile, dann wagte er es. »Dukie!«, rief Jonah mit gedämpfter Stimme. Die Antwort war ein Puff, Puff, Puff, Puff . Scheiße, dachte er. Und plötzlich spürte er Angst in sich hochsteigen, eine dunkle mächtigeAngst. Da kam die Schlange zurück. Ihre trockene, kühle Haut streifte erneut seinen Knöchel. Aber diesmal kroch sie nicht vorbei. Sie rollte sich an seinem Fuß zusammen und blieb dort liegen.
Jonah stand da wie erstarrt. Sein ganzer Körper war in Aufruhr, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Er stand immer noch mit der einen Hand an der Brüstung und dem rechten Bein in der Luft. Wie lange würde er in dieser Haltung ausharren können? Alle seine Sinne waren geschärft, er hatte sich noch nie so wach gefühlt. Er erinnerte sich plötzlich an ein abgehörtes Gespräch, bei dem Wim Tanner geprahlt hatte, dass Babypuffottern giftiger als ihre Mütter seien. »Sie machen ihre geringe Größe durch ein besonders starkes Gift wett«, hatte er gesagt.
Das Bein, auf dem Jonah stand, begann zu schmerzen. Er wartete. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Er merkte, wie die Angst ihn verließ. Er fühlte sich mit einem Mal frei. Jetzt, in diesem Augenblick, konnte er zwischen Leben und Tod wählen. Jonah wurde übermutig. Soll ich mich ein bisschen bewegen?, überlegte er. Die Schlange würde wahrscheinlich nicht lange zögern und ihre Giftzähne in sein Bein bohren. »Ein tragischer Unfall«, würden die Leute sagen. Nicht unbedingt eine schlechte Idee. Schließlich konnte er nicht sein ganzes Leben im Dachgeschoss der Villa verbringen. Dukie würde spätestens nach dem Abitur ausziehen. Und dann musste auch er wieder zu den Menschen da unten hinabsteigen. Zu den Sehenden. Ohne lange nachdenken zu müssen, wusste er, dass er darauf keine Lust hatte. Das Leben hatte es mit ihm nicht gut gemeint. Warum sollte er sich jetzt besonders ins Zeug legen? Warum überhaupt in einer Welt leben, die nicht mehr die seine war? Warum in einen Wettbewerb treten, den man nur verlieren konnte? Er würde sich sowieso entscheiden müssen, wiees weiterging. Warum die Entscheidung nicht jetzt treffen? Hier zu seinen Füßen lag eine elegante Lösung.
Jonah bewegte das Bein in der Luft ein wenig, wie um die Bewegung, die ihn töten könnte, anzutesten. Die Schlange wurde sofort unruhig. Sie stieß mit ihrem Kopf an seinen Knöchel, richtete sich auf und züngelte seine Wade entlang. Es kitzelte. Aber wenn die Schlange mich beißt, wird niemand das Mädchen warnen, dachte Jonah plötzlich. Und er kannte jetzt immerhin ihren Geburtsnamen. Es gab nur einen Grund, sich nicht von der Schlange umbringen zu lassen, und der war, dass er das Mädchen warnen musste. Wollte er das wirklich? Was ging sie ihn überhaupt an? Aber wenn er ehrlich war, interessierte er sich schon für sie. Er hatte immer genau hingehört, wenn Dr. Saalfeld und Wim Tanner über sie gesprochen hatten. Er hatte Dukie gedrängt, ihr zu helfen. Warum? Irgendwie fühlte er sich moralisch dazu verpflichtet. Und er hatte das Gefühl, dass es vielleicht der erste Schritt zurück ins Leben sein könnte. Er wollte zurück. Und dass er das wollte, war das Ätzende. Er wollte nicht wollen. Am schwersten war zu ertragen, dass einen das Leben mit Füßen trat und man dennoch an ihm hing. Warum drehte man sich nicht einfach um und verließ die Bühne?
Und dann war die Angst wieder da. Wie ein schweres Tier legte sie sich erst in seinen Bauch und kroch dann weiter in seine Beine, Arme, den Kopf und in die Haarspitzen. Ja, auch in die Haare. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie wie elektrisch geladen von seinem Kopf abgestanden hätten. Die Uhr im Erdgeschoss schlug Viertel nach fünf. Bissen Schlangen eigentlich auch zu, wenn man sich nicht bewegte? Konnte ja sein. Er war jetzt nass geschwitzt – und wartete weiter. Wenn die Schlange mich nicht beißt, warne ich das Mädchen, sagte er sich. Es war ein Schwur.
Er war so darauf konzentriert, sich nicht zu bewegen, dass er Carmen nicht kommen hörte. Sie musste die Schlange sofort gesehen haben, denn noch auf der Treppe machte sie wieder kehrt. Erst da nahm
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