Haut, so weiß wie Schnee
passiert. Noch während das Baby auf der Station lag, war Norbert verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Der vielversprechende, ehrgeizige, mit den besten Verbindungen ausgestattete junge Mann war auf einmal weg gewesen – ohne irgendeinen Hinweis auf seinen neuen Aufenthaltsort zu hinterlassen. Norbert Königssohn war nie wieder aufgetaucht, und die Polizei ging schließlich von einem Verbrechen aus. Irgendwann musste sie die Akten geschlossen haben.
Vor zwei Wochen hatte Oberschwester Barbara einen alten Schrank ausgemistet und einen Stapel Papiere gefunden. Weil die Notizen aus der Zeit stammten, als Kai Saalfeld auf der Station arbeitete, hatte sie ihm die Sachen kurzerhand zu einer Sitzung des Fördervereins der Klinik mitgebracht. Er hatte zunächst kaum einen Blick darauf verwandt. Aber als die Sitzung ihren üblichen langweiligen Verlauf nahm, hatte er sich in die Aufzeichnungen vertieft. Und von der letzten Seite, die er jetzt in der Hand hielt, war er wie elektrisiert gewesen.
Ob es stimmte, was dort stand? Norbert war nie ein Angeber gewesen. Das hatte er nicht nötig gehabt. Doch an derentscheidenden Stelle auf dem Blatt hatte Norbert aufgehört zu schreiben. Warum? Wo genau auf dem Gen lag diese Mutation, wenn es sie denn wirklich gab? In den vergangenen Jahren hatte die Wissenschaft große Fortschritte erzielt. Wenn die Mutation existierte, würde er sie finden können. Das Wichtige war, dass Norbert das Gen genannt hatte. Man musste eigentlich nur das Blut des Mädchens mit einer normalen Variante des NF1-Gens vergleichen. Die Computer, die es heutzutage gab, konnten so etwas. Er würde die Arbeiten notfalls sogar selbst durchführen. Bereits als Student hatte er mit den »Sequenziermaschinen« gearbeitet, die dafür nötig waren. Heute gab es natürlich viel schnellere. Auch Stayermed besaß welche.
Mit dem Wissen um die Mutation würde er die Konkurrenz abhängen können. Er würde analoge Pflegeprodukte auf den Markt bringen, die ähnlich wie das Gen des Babys wirkten. Er konnte sich schon jetzt vorstellen, in welche Aufregung das den Pharma- und Kosmetikmarkt versetzen würde. Und wenn er die Mutation tatsächlich fand, würde die Stayermed-Aktie wie ein Pfeil in die Höhe schießen. Es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung gewesen, das Mädchen gar nicht erst zu fragen, ob sie in die Untersuchungen einwilligte, dachte Dr. Saalfeld. Womöglich hätte sie sich geweigert oder alles ausgeplaudert. Und dann hätte bald jeder versucht, sich eine Genprobe von ihr zu sichern.
Doch es gab noch ein weiteres Geheimnis rund um dieses Gen. Norberts Notiz trug das Datum vom 21. Mai 1991. Da Kai Saalfeld sich nicht mehr genau an den Tag seines Verschwindens erinnerte, hatte er alte Zeitungen gesichtet, und den Berichten der Journalisten zufolge war Norbert an genau diesem Tag das letzte Mal in der Öffentlichkeit gesehen worden. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Norbert ihr Leben all die Jahre aus der Ferne womöglich mitverfolgt?Hatte er etwas mit dem Falken zu tun? Oder lebte er wirklich nicht mehr?
Dr. Saalfeld hatte es bisher nie bereut, seine Stelle im Krankenhaus aufgegeben zu haben, denn bei Stayermed verdiente er ein Vielfaches dessen, was er jemals als Arzt hätte erzielen können. Und er bedauerte auch nicht, dass er Wim damals aus dem Krankenhaus mit zu Stayermed genommen hatte, da der ehemalige Krankenpfleger immer gut gearbeitet hatte. Die Sache am See war der erste große Patzer gewesen. Doch schließlich hatte Wim all die Jahre viele Dinge für ihn erledigt, die er selbst wegen seines guten Rufes nicht hatte übernehmen können. Außerdem war er der beste Gärtner, den er je gehabt hatte – die Blüte der Titanenwurz war ihm zu verdanken. Und der Garten war eigentlich das Wichtigste in Kai Saalfelds Leben, auch wenn er das niemals laut sagen würde. Aber ihm war aufgefallen, dass Wim Tanner in letzter Zeit etwas unzufrieden wirkte – das musste man im Blick behalten.
Nachdenklich zog sich Kai Saalfeld in sein Arbeitszimmer zurück.
Die Blutprobe
Wim Tanner griff missmutig nach dem Autoschlüssel. Es war jetzt eine Woche her, dass er sein Mädchen , die Fledermaus, am See verloren hatte, und er hatte sich von dem Schlag noch nicht erholt. Es würde Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis er eine andere Fledermaus ebenso weit haben würde wie sein Mädchen. Und wer wusste schon, ob es überhaupt gelang? Vielleicht hatte sie ja eine besondere Begabung gehabt. Wim Tanner warf
Weitere Kostenlose Bücher