Haut, so weiß wie Schnee
Jonah ihre klappernden, sich schnell entfernenden Schritte wahr. Ein paar Minuten später kam Wim Tanner die Stufen hoch. Er hatte einen Behälter mit verängstigt piepsenden Küken dabei, den er vorsichtig auf den Boden stellte. Kurz darauf richtete sich die Schlange an Jonahs Knöchel auf und kroch davon. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, sagte Wim Tanner: »Ich hab sie. Hattet ihr Spaß miteinander?«
Nach der Party
Kai Saalfeld stand auf der Veranda vor seinem Arbeitszimmer. Die Gäste waren inzwischen gegangen. Der Trubel hatte sich im vorderen Teil des Gartens und auf der Familienveranda abgespielt. Ihm war es recht. Hier, an seinem persönlichen Rückzugsort, konnte er keine Barbaren gebrauchen. Die Leute pusteten den Rosen ungeniert ihren Zigarettenqualm entgegen. Sie überschritten die sorgfältig gezogenen Wege und traten auf junge Keimlinge. Sie lachten wiehernd, sodass die kleinen Enzianpflanzen ihre Kelche schlossen. Aber nun war es erst einmal vorbei.
Gesellschaftliche Verpflichtungen wie diese ließen sich leider nicht vermeiden. Erst recht nicht im Moment. Das erste Mal in all den Jahren, seitdem er Chef des Stayermed-Konzerns war, hatte er ernsthafte finanzielle Probleme. Der Kurs der Aktie fiel. Und das bereits seit Monaten. Am Anfang waren die Verluste noch gering gewesen, aber inzwischen gab es richtige Kursstürze. Es hatte damit begonnen, dass ihnen ein Mitbewerber ein wichtiges Patent vor der Nase weggeschnappt hatte. Seither hatte er das Ruder nicht wieder herumreißen können. Genau das war aber seine Aufgabe. Er musste die Talfahrt aufhalten. Sonst würde ihn der Aufsichtsrat an die Luft setzen, die fackelten nicht lange.
Dr. Saalfeld war während des Festes unkonzentriert gewesen. Fast hätte er es sogar versäumt, den Oberbürgermeister zu begrüßen. Zudem hatte er vergessen, sein Arbeitszimmer abzuschließen. Er war mit seinen Gedanken die ganze Zeit woanders gewesen. Der Falke, der nachts am Seeaufgetaucht war, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Kein wilder Falke jagte in der Dunkelheit. Da hatte er sich noch einmal informiert. Und der Falke gehörte wohl auch kaum einem arabischen Beduinen, die ja für ihre Vernarrtheit in Greifvögel bekannt waren. Das Wahrscheinlichste war, dass Norbert Königssohn seine Finger im Spiel hatte. Der Mann, der damals Lina Sandweys Blut genetisch untersucht hatte. Er kam nämlich aus einem Haushalt, in dem es Falken gegeben hatte. Sein Vater war Förster gewesen. Er hatte sich sofort daran erinnert, als Wim ihm die Geschichte von der Fledermaus am See erzählt hatte. Doch natürlich hatte er den Gedanken für sich behalten und Wim Tanner nichts gesagt – schließlich mussten auch die engsten Mitarbeiter nicht alles wissen.
Einen Trumpf, einen echten Joker, das war es, was er jetzt brauchte. Damit würde er es allen zeigen können. Ob er einen solchen Trumpf in seiner Hosentasche hatte? Kai Saalfeld öffnete hinten an seiner Hose einen kleinen Reißverschluss und zog ein Papier hervor. Es war ein angegilbtes Blatt in DIN-A4-Größe. Er faltete es auf und studierte es, wie er es bereits so oft getan hatte. Das Schreiben war mit einem etwa fünfzehn Jahre alten Datum versehen. Oben rechts stand der Name von Norbert Königssohn, und auf dem Blatt standen nur wenige Worte: »Ich habe heute auf dem NF1-Gen des neugeborenen Kindes Lina Sandwey eine genetische Mutation entdeckt, die ihr eine perfekte Haut beschert. Konkret ist …« An dieser Stelle brach der Satz ab. Was hielt er hier in der Hand? Eine Lizenz zum Gelddrucken? Oder wertlosen Quatsch?
Vor fünfzehn Jahren hatten sie alle zusammen auf derselben Station im Krankenhaus gearbeitet. Er selbst als Assistenzarzt, Wim als junger Hilfskrankenpfleger, Norbert als Doktorand für Humangenetik. Norbert Königssohn, derbrillante Wissenschaftler. Bereits als Student hatte er bei der Entschlüsselung des NF1-Gens mitgearbeitet, einem Gen, das Vorgänge der Haut und des Nervensystems regelte. Niemand im Krankenhaus hatte das Gen damals so gut gekannt wie Norbert Königssohn.
Als diese Lina Sandwey geboren wurde, hatte Norbert von heute auf morgen seine laufenden Forschungen eingestellt und sich nur noch um das Baby gekümmert. Er hatte gehofft, eine genetische Erklärung für ihre perfekte Haut zu finden. Jeden Tag hatte es auf der Station neue Babys gegeben. Aber keines hatte auch nur annähernd eine so makellose Haut gehabt wie diese Lina Sandwey. Und dann war etwas Komisches
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