Haut, so weiß wie Schnee
Pflanzennarr gewesen und hatte dieses Hobby inzwischen perfektioniert. Von der etwas höher gelegenen Terrasse, auf der das Orchester spielte, führten kleine Kieswege vorbei an kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen und Rosenbeeten zu einer Wasserlandschaft. Mehrere alte Linden spendeten den Gästen Schatten. Unzählige kleine Hecken, verwitterte Mäuerchen, Steinfiguren, Pavillons und Springbrunnen schienen den Garten in einen verwunschenen Ort zu verwandeln. Nach Osten hin begrenzte ein Bauerngarten das Anwesen, nach Westen eine Margeritenwiese mit Weiden. Zur Straße hin lag das Gewächshaus, das von einem kleinen Wald aus alten Ahornbäumen und Eichen umgeben war.
»Stell doch das Mikro mit dem Parabolspiegel endlich mal an«, sagte Jonah. Ihm war zum Erbrechen langweilig.
»Gleich«, sagte Dukie. Dann feixte er. »Übrigens hab ich ein neues Computerprogramm, das die Gerüche gleich mittransportiert.«
»Du meinst, ich würde mir bald wünschen, dass bei dem Unfall auch meine Nase draufgegangen wäre?«, sagte Jonah aggressiv. Dukie antwortete nicht und schaltete stattdessen das Mikro ein.
»Liebe Freunde«, begann Herr Saalfeld gerade seine Rede. »Sie haben ganz recht: Diese braun-purpurne Blüte ist wirklich beeindruckend – und stinkt unglaublich!«
Im Hintergrund waren vereinzelt Stimmen zu hören.
»Barbarisch!«, sagte eine Frau und würgte laut.
»Raus hier!«, flüsterte ein Mädchen.
»Wie Leichengeruch«, fügte ein Mann hinzu.
»Wim, erzähl uns ein paar Einzelheiten«, bat Dr. Saalfeld.
»Meine Herrschaften …« Wim Tanner war direkt zur Stelle. »… was dem einen Ekel bereitet, ist dem anderen Genuss …« Einige der Anwesenden lachten. »Diese kleinen Käferchen hier, von denen Sie im Moment nur wenige sehen, die nachts aber in ganzen Scharen aktiv sind, fühlen sich durch den Geruch dieser Pflanze magisch angezogen …«
Jonah schaltete innerlich ab. Auf die biologischen Ergüsse Wim Tanners konnte er gut verzichten. Außerdem hatte der Mann einen unangenehm pfeifenden Atem, den das Mikrofon schonungslos übertrug. Wahrscheinlich Polypen, dachte Jonah.
»Hast du nichts Besseres?«, fragte er Dukie.
»Wieso, ist doch interessant.«
Jonah drängte nicht weiter. Das Orchester spielte Pretty Woman . Ob jemand tanzte? Seine alte Klasse hatte im vergangenen Jahr einen Tanzkurs gemacht. Sie hatten ihn gefragt, ob er mitgehen wolle, doch er hatte abgelehnt und seither von niemandem mehr etwas gehört. Jetzt ging er auf eine Sehbehindertenschule. Seine Eltern fuhren ihn morgens hin und holten ihn mittags wieder ab. Die ganze Veranstaltung nervte unendlich. Warum mit sechzehn Jahren noch mal lesen lernen?, hatte er sich mehr als einmal gefragt. Mit Punkten, die man unter den Händen kaum spürte? Und die ganzen Computerprogramme mit ihren Sprachausgaben ließen sich auch nicht gerade einfach bedienen. Er saß dort nur seine Zeit ab. Hin und wieder versuchte seine Mutter, ihm ins Gewissen zu reden. Er müsse sich kleine Ziele setzen, zum Beispiel sich wieder Notizen machen zu können. Mit ein paar Brailleschrift-Kenntnissen ließen sich die entsprechenden Schreibmaschinen ohne viel Aufwand benutzen. Doch Jonah ging nie auf diese Vorschläge ein und war froh, dass wenigstens sein Vater ihn in Ruhe ließ, dererst mal abzuwarten schien. Worauf, war Jonah allerdings nicht ganz klar. In der Zwischenzeit machte er ihm jedenfalls köstliche Nachtische.
Im Gewächshaus schwoll der Geräuschpegel plötzlich stark an. Dann verebbte er. Die Leute gingen hinaus. Dukie wollte den Sender gerade ausstellen, als die Stimme seines Vaters erklang.
»Wim, gute Nachrichten.«
»Was denn?«, fragte Wim Tanner.
»Das Mädchen hat angebissen«, sagte Dr. Saalfeld. »Sie hat sich beworben. Als eine der Ersten. Diese Gören sind alle gleich. Träumen von einer Karriere als Model … Wir warten noch ein paar Tage, damit der Wettbewerb glaubhaft ist. Dann laden wir sie zur Siegerehrung ein.«
»Läuft ja bestens.«
»Du besorgst trotzdem wie besprochen die Blutprobe. Das geht schneller. Ich will endlich anfangen.«
Es war wieder still.
Sie hat sich also beworben, dachte Jonah. Und ahnt wahrscheinlich nichts. Wie sie wohl hieß? Und wo sie wohnte? Jonah wollte Dukie gerade fragen, ob er in den vergangenen Tagen noch etwas über das Mädchen erfahren hatte, als dieser zu einem seiner Technikmonologe ansetzte. Er wollte von dem Thema ablenken, das war Jonah völlig klar. Seit dem Tag, als sie das Abendessen von
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