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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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sie im Innern der Lampe zwei wichtige Kabel vertauscht: Der Strang, der normalerweise den Strom von der Steckdose zur Glühbirne transportiert, führte jetzt direkt auf den Metallrahmen. Es handelte sich um eine Manipulation, die lebensgefährliche Folgen haben konnte.
    Jette und Jonah hatten sich lange überlegt, ob sie den Tod eines der Entführer in Kauf nehmen sollten. Und sich dann dagegen entschieden. Sie konnten es sich einfach nicht vorstellen, einen Menschen zu töten. »Hoffentlich bereuen wir das nicht«, hatte Jonah gesagt. Aber Jette war froh, dass sie sich so entschieden hatten. Die Isomatte, auf der die Lampe stand, würde dem Mann das Leben retten. Er würde auf der Isomatte stehen, wenn er die Lampe anfasste, und die Gummiunterlage unter seinen Füßen würde verhindern, dass der Strom endlos durch ihn hindurchfließen konnte. Gummi leitete nicht. Auch das hatten sie aus dem Buch erfahren.
    Hoffentlich reicht der Stromschlag aus, um ihn lange genug auszuschalten, dachte Jette. Sie griff in die Tasche ihres Hosenrocks. Dort war ihre zweite Waffe versteckt. Ein kleines, dickbäuchiges Plastikfläschchen mit WC-Reiniger. Es stammte aus der Campingtoilette und war im Innern der Kloschüssel befestigt gewesen. Nach jedem Spülvorgang sonderte es etwas von seinem Inhalt ab. Jette hatte das Fläschchen abmontiert und sich dabei tief über die Kloschüssel beugen müssen, was ziemlich eklig gewesen war. Und dabei hasste sie dieses Campingklo sowieso schon. Denn auch wenn Jonah blind war, fand sie es unerträglich, es in seinerAnwesenheit benutzen zu müssen. Jetzt aber war sie froh über das mobile Chemielabor. Wenn sie auf den Bauch des Fläschchens drückte, spritzte oben eine stechend riechende Flüssigkeit heraus.
    »Wird das heute noch was?«, brüllte Wim Tanner von draußen.
    Jette ging zur Türöffnung. »Die Lampe funktioniert nicht«, sagte sie.
    Wim Tanner zuckte mit den Schultern.
    »Bitte«, sagte Jette, »schauen Sie doch mal nach.«
    Keine Reaktion.
    »Bitte«, sagte Jette flehend und blickte Hilfe suchend den anderen Mann an, der immer noch eine schwarze Mütze trug. Er schien zu überlegen. Dann setzte er sich in Bewegung.
    Jette verschwand wieder in dem engen Verlies. Das Wichtigste war das Timing. Sie musste beide Männer gleichzeitig ausschalten. Sie stellte sich vorn in die Ecke neben dem Eingang, wo es am hellsten war. Dann rief sie laut »Uäääh!« und versuchte, möglichst viel Ekel in ihre Stimme zu legen. »Hier liegt eine Fledermaus. Die bewegt sich sogar noch.«
    Wim Tanner und sein Komplize drückten sich fast zeitgleich durch die niedrige Tür in den Raum. »Wo?«, fuhr Wim Tanner sie barsch an.
    »Hier«, sagte Jette und zeigte in die Ecke.
    Wim Tanner kam näher. Der andere Mann, dessen Bewegungen sie aus dem Augenwinkel verfolgte, erreichte gerade die Isomatte. Wim Tanner stand jetzt direkt neben ihr und bückte sich. Der andere führte seine Hand zum Lichtschalter. Jette hörte das Knipsen des Schalters, dann einen leisen Knall, kurz darauf die Stimme des Mannes: »Au! Scheiße!« Dann war es einen Augenblick still. »Tja, Kurzschluss«, sagte der Mann ungerührt. »Kann man nichts machen.«
    Keine Schmerzensschreie. Der Mann sank auch nicht zu Boden. Das durfte doch nicht wahr sein! Jette griff nach dem Fläschchen in ihrer Hosentasche. Ihre Hände zitterten.
    Wim Tanner sah auf. Ihre Blicke trafen sich. »Wo ist denn jetzt die Fledermaus?«, herrschte er sie an. Von draußen war Jonahs zaghafte Stimme zu hören: »Alles okay?«, fragte er.
    »Ja«, murmelte Jette. Sie zog das Fläschchen aus der Tasche, hob es hoch und spritzte die Flüssigkeit direkt in Wim Tanners Gesicht. Erst in das eine Auge, dann, ohne den Strahl zu unterbrechen, in das andere.
    Wim Tanner war zu überrascht, um schnell genug zu reagieren. Er stand da, als bekäme er beim Arzt Augentropfen verabreicht. Jette sah, wie sich der WC-Reiniger im Innern seiner Augen verteilte. Er bildete kleine Blasen, die lautlos aufplatzten. Und da fing Wim Tanner an zu schreien. Es klang wie die Schmerzensschreie eines verletzten Tieres. Er fuhr sich mit seinen Händen an die Augen, rieb sie panisch, drückte seine Finger tief in die Höhlen, riss sie wieder von seinem Gesicht fort, führte sie zurück. Der andere Mann kam herbeigeeilt.
    Durch die Schlitze der Maske konnte Jette sehen, wie der Mann erst auf Wim Tanner blickte, der gerade zu Boden sank, und dann auf sie. Jette hob das Fläschchen und spritzte noch

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