Haut, so weiß wie Schnee
einmal. Rechts. Links. Ein kurzer ungläubiger Blick, dann auch hier Schmerzensschreie. Der Mann riss sich die Maske vom Gesicht. Er war blond. Der Eisverkäufer. Es wunderte sie nicht. Der Mann rieb sich mit beiden Händen die Augen. Kraftlos lehnte er sich an die Wand. Jetzt brauchte sie schnell die Fernbedienung. Jette beugte sich zu Wim Tanner hinunter, griff entschlossen in seine Hosentasche und zog die Fernbedienung heraus. Wim Tanner wand sich auf dem Boden vor Schmerzen. Er schrie immer noch. Es hörte sich entsetzlich an, denn die Wände des engen Verlieses warfensich den Schall gegenseitig zu. Der Revolver , durchzuckte es das Mädchen plötzlich. Wim Tanner hatte ihn an einem Bauchgurt befestigt. Jette konnte das Holster, in dem die Waffe steckte, unter dem T-Shirt erkennen. Sie schob das Shirt hoch. Das Holster war geschlossen: eine Schnalle mit zwei Druckknöpfen. Jette riss an den Druckknöpfen herum. Aber sie gingen nicht auf. Die Dinger klemmten. Der zweite Entführer gab ein Wimmern von sich. Jette schnappte sich die schwarze Maske des Blonden, die auf dem Boden lag, und rannte aus dem Verlies.
»Ich hab die Fernbedienung«, sagte sie atemlos.
»Mach die Tür zu«, raunte Jonah.
Jette fand die Taste, die sie gesucht hatte. Der gleiche Pfeil wie vorhin, aber in die andere Richtung. Sie drückte. Nichts geschah. Sie hob die Fernbedienung etwas in die Höhe, richtete sie genau auf den Eingang und drückte erneut, doch wieder passierte nichts. Zitternd probierte sie andere Tasten aus. »Jo«, flüsterte sie, »die Tür geht nicht zu.«
Ein dünner Faden im Glas
Kai Saalfeld hatte die Jalousien des Labors hinuntergelassen und die Tür abgeschlossen. Er wollte auf keinen Fall gestört werden. Heute würde er die entscheidenden Tests mit dem Blut von Jette Lindner machen. Mit etwas Glück kenne ich in ein paar Stunden die Formel für die perfekte Haut, dachte er. Ein Gefühl des Triumphs überkam ihn, das er aber sofort niederkämpfte. In der Genetik steckte der Teufel im Detail. Das wusste er aus seinen Forschungen als Student. Wahrscheinlicher war, dass er noch ein paar Tage brauchte. Dann aber würde er dem Mädchen sein Geheimnis entrissen haben.
In gewisser Weise stand alles bereits gut sichtbar vor ihm. Er hatte Wim gebeten, dem Mädchen noch ein zweites Mal Blut abzunehmen, um sich eine DNA-Probe von ihr auf den Schreibtisch stellen zu können. Wann immer er jetzt auf dieses Fläschchen blickte, spürte er ein verheißungsvolles Kribbeln in den Fingern. Direkt vor ihm, zum Greifen nahe, schwamm in einer alkoholischen Lösung ein dünner schleimiger Faden: die DNA der Jette Lindner.
Verzückt folgte Saalfeld mit seinen Augen den Windungen des Schleimfadens. Kleine Kurve nach rechts, größere nach links und so weiter. Was er hier sah, war der genetische Bauplan des Mädchens. Ihr Innerstes lag offen zutage.
Die DNA zu isolieren war kein Problem gewesen. Das hatte er bereits früher gemacht. Zuerst sortierte man die roten Blutkörperchen aus, da sie keine genetischen Informationen enthielten. Dann gab man ein Mittel in die Probe, das alle festen Bestandteile bis auf die DNA abbaute. Schließlich fügte man noch Alkohol hinzu, der ja bekanntlich Wasserentzog, und – voilà! – die DNA-Moleküle verklumpten sich in der Lösung zu einem gut sichtbaren Faden. Er hatte immer gern im Labor gestanden und schon als Medizinstudent mit Vorliebe genetische Strukturen untersucht. In die Wirtschaft war er nur wegen des Geldes gegangen.
Die erste Blutprobe hatte er dem Mädchen selbst entnommen. Das hatte er sich nicht nehmen lassen, obwohl es riskant gewesen war. Wenn ihn jemand gesehen hätte! Er hatte ihr die Nadel noch im Auto an die Vene gesetzt, als Wim mit ihr im Tropenhaus ankam. Sie hatte sehr schön ausgesehen. Es fehlten eigentlich nur noch ein Glassarg und ein Apfelschnitz im Mund, dann würde sie ein makelloses Schneewittchen abgeben. Ihre Haut war tatsächlich perfekt. Außergewöhnlich feine Poren, extrem straffes Bindegewebe, geringer Fettgehalt, mit einem leicht rosigen Teint. Sie sah unglaublich gesund aus. Eine Haut wie Seide. Und diese Seide würde in Kürze ihm gehören. Genauer gesagt, das Patent dafür.
Kosmetika für Problemhaut waren ein Milliardenmarkt. Mit einer Creme, die an den eigentlichen Ursachen ansetzte, würde er die Konkurrenz vom Markt fegen. Erste wissenschaftliche Erfahrungen mit Gen-Cremes gab es bereits. Der Mechanismus war klar: Künstlich nachgebaute
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