Haut, so weiß wie Schnee
Boden.
Sie setzte sich wieder neben Jonah. Er strich ihr über die Wange. »Darf ich dich mal was fragen?«, sagte er.
»Klar.«
»Glaubst du eigentlich, dass du dieses Gen hast?«
Jette lachte. Diese Frage hatte sie sich noch nicht gestellt. »Ist doch egal. Würde das irgendwas ändern?«
»Nein«, sagte Jonah. »Aber ist doch interessant, oder?«
»Ja, super interessant«, sagte sie schnippisch. »Vor allem das Leben hier auf diesem Hochsitz.«
»Interessiert es dich denn gar nicht?«
»Ich bin nicht gern Versuchskaninchen.«
»Ist mir schon klar. Aber mal so allgemein betrachtet.«
»Jo«, sagte sie ernst, »ob mit oder ohne Gen, das macht doch keinen Unterschied. Das ändert doch gar nichts. Es ist mir wirklich egal.«
Jonah sagte nichts. Neben ihm lag die kaputte Mütze, die Wim Tanner auf dem Hochsitz liegen gelassen hatte, und Jonah begann, damit herumzuspielen. Er hob sie mit den Zehen seines rechten Fußes auf und gab sie dann an den linken Fuß weiter. Kleine Kunststücke hatte er immer schon gut gekonnt. Nachher bei der Flucht sollte er sich die Mütze überziehen. Und Jette die Mütze des anderen Entführers. Der Mann unten an der Hebebühne würde sie hoffentlich zumindest von Weitem für Wim Tanner und seinen Komplizen halten und sie herunterfahren. Wie es dann weitergehen würde, wenn sie unten ankämen, wussten sie noch nicht genau.
Jette angelte mit den Händen nach der Wasserflasche. Schon die kleinste Bewegung in der schwülen Luft war anstrengend. In der Ferne schlug eine Tür zu. Jonah zuckte zusammen. Jette blieb reglos mit der Flasche in der Hand sitzen. Sie lauschten. Jemand war im Tropenhaus, aber er schien nicht zu ihnen hochzukommen. Wahrscheinlich war es Wim Tanner oder ein anderer Aufpasser, dachte Jette. Sonst hätte man sie längst ins Verlies gesperrt. Jonah nahm sein Spielchen wieder auf.Er sah komisch aus, wie er so dasaß. Weniger wegen des schwarzen Stofffetzens zwischen den Zehen als wegen der Kleidung, die er trug. Die Sachen hatte Wim Tanner ihm gebracht. Ihre alte Kleidung war völlig verdreckt gewesen. Jonahs neue Hose war viel zu weit, und er musste sie in regelmäßigen Abständen hochziehen. Einen Gürtel hatte Wim Tanner ihm nicht spendiert. Die Hose war aus einem billigen Jeansstoff, mehr Stoff als Jeans, und Jonah hatte die Hosenbeine wegen der Hitze hochgekrempelt. Seine Beine waren leicht gebräunt. Die vielen hellen Härchen glitzerten in der Sonne. Männerbeine, dachte Jette. Am Oberkörper trug er, wie um einen Kontrast zu der weiten Hose zu schaffen, ein viel zu enges T-Shirt. Es war in einem dezenten Grau, spannte aber über dem gesamten Oberkörper. Es war definitiv einige Nummern zu klein. Immerhin sah man, dass Jonah gut gebaut war. Jette hatte ihm gesagt, er könne das T-Shirt wegen der Hitze ruhig ausziehen. Aber er wollte nicht. So wie er jetzt dasaß, zeichneten sich sein Bauchnabel und seine Brustwarzen deutlich unter dem engen Stoff ab. Das T-Shirt zeigte mehr, als es verbarg. Wie immer trug Jonah seine Sonnenbrille. Einmal hatte sie an einem Morgen seine Augen gesehen. Er war gerade aufgewacht und hatte nach seiner Brille getastet. Sie waren blau. Dunkelblau. Auf den ersten Blick hatten sie ganz normal ausgesehen. Aber dann hatte sie gemerkt, dass sich die Augen nicht synchron bewegten, so als schielte er. Sie hatte das Gefühl gehabt, etwas Verbotenes zu tun, und sich schnell schlafend gestellt.
»Weißt du eigentlich, was ich anhabe?«, fragte sie.
»Nein, Jella«, sagte Jonah amüsiert.
Jella. Sie mochte diesen Namen. Jonah benutzte ihn nicht oft. Aber wenn er ihn in den Mund nahm, hatte sie das Gefühl, jemand anderes zu sein. Als führte sie noch ein zweites, geheimnisvolles Leben im Verborgenen.
»Soll ich’s dir sagen?«
»Unbedingt.«
Sie schaute an sich hinunter. Auch sie war in den Genuss der Wim Tanner’schen Kleiderwahl gekommen. Ihre eigene Kleidung konnte sie beim besten Willen nicht mehr anziehen. Und Wim Tanner weigerte sich, sie in die Reinigung zu bringen. Die Sachen, die sie jetzt trug, stammten mit Sicherheit aus einem Textildiscounter. Wahrscheinlich für 2,45 Euro das Stück.
»Also, ich bin sehr adrett«, sagte sie gedehnt.
Jonah zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Eine Bluse mit Puffärmeln.«
»Okay«, sagte er mit viel Mitgefühl in der Stimme.
»Ich hab sie ganz zugeknöpft, bis oben.«
»Brav.«
»Aber beim Anziehen ist eine Naht gerissen. Das ist total schlechte Qualität. Und jetzt ist die Bluse
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