Haut, so weiß wie Schnee
verkorkst. Aber der Vorteil war, dass man mit niemandem teilen musste. Wim Tanner hatte sich entschieden, nur den Vorteil zu sehen. Der letzte Geburtstag mit echten Gästen lag schon eine Ewigkeit zurück; es war sein siebter gewesen, und er hatte einen richtigen Kindergeburtstag gefeiert. Doch am Tag danach hatte ihm ein Klassenkamerad gesteckt, dass seine Mutter allen Kindern zwei Mark für ihr Kommen gegeben hatte. Seit diesem Tag hatte Wim Tanner nie wieder jemanden eingeladen.
Sein Blick fiel auf die Zeitungen, die auf der Bank neben der Verandatür lagen. Zuoberst eine Boulevardzeitung. Der Aufmacher war wie immer ein Foto des vermissten Mädchens. Jeden Tag tauchten neue Bilder von Jette Lindner auf. Inzwischen musste ihr gesamter Bekanntenkreis seine Fotos verkauft haben. Wim Tanner hatte keine Ahnung, was für die Bilder gezahlt wurde, aber die Zeitungen schienen sich um sie zu reißen. Mit der Schönheit und Tragik des Mädchens ließ sich Auflage machen. Auch von ihm war wahrscheinlich irgendwo in der Zeitung ein Foto. Allerdings das Fahndungsfoto. Und das würde garantiert niemand mitdem andalusischen Gärtner in Verbindung bringen, als der er sich jetzt ausgab.
Wim Tanner holte sich die Zeitung und sah, dass neben dem Bild von Jette Lindner noch ein zweites, kleineres abgedruckt war. Herr und Frau Saalfeld beim Tanzen. Mitten durch das Paar verlief ein Riss, womit die Redaktion die Trennung der beiden bekannt gab. Die Überschrift lautete: »Böser Verdacht«. Darunter stand:
Wie lange hält eine Frau zu ihrem Mann? Was weiß Frau Saalfeld, was der Polizei nicht bekannt ist? Tatsache ist, dass Nadine Saalfeld, geborene Hochstadt, nach 21 Ehejahren ihren Mann verlassen hat. Den gemeinsamen Sohn Alexander (16) nahm sie mit. Am Freitagnachmittag um 16.35 Uhr verließen die beiden in einem voll gepackten Coupé das Anwesen. »Ich gehe für immer« , sagte Frau Saalfeld einer Freundin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Noch am selben Tag zogen auch die Eltern des befreiten Jungen, die bis dahin als Privatbedienstete bei Dr. Saalfeld beschäftigt gewesen waren, und das gesamte übrige Personal aus. Eine weitere Angestellte: »Alle wollen nur noch weg. Es ist gruselig, sich vorzustellen, dass die jungen Leute hier auf dem Grundstück gefangen waren und dass man immer noch nicht weiß, was genau passiert ist.« Um Dr. Kai Saalfeld, vor ein paar Tagen noch Topmanager und in der Gesellschaft gern gesehener Gartenmäzen, ist es still geworden. Hat das Glück ihn ohne eigene Schuld verlassen? Oder trägt er ein grausames Geheimnis in seinem Herzen?
Auf weibliche Hysterie ist Verlass, dachte Wim Tanner. Wie gut, dass alle weg waren. Sonst könnte er sich jetzt nicht hier aufhalten, irgendjemand hätte ihn bestimmt erkannt. Morgenwürde er ein Versteck in der Villa herrichten, in dem das Mädchen länger bleiben konnte. Ich stell ihr auch die Schlange rein, dachte er. Vielleicht pariert sie dann endlich.
Er ging ins Esszimmer, um sich mit neuen Getränken zu versorgen. Bevor er mit den Gläsern wieder hinausging, drückte er noch auf die Fernbedienung der Stereoanlage. Ella Fitzgerald. Jazz. Die CD musste noch Frau Saalfeld eingelegt haben. Er stellte die Anlage laut, sodass die Musik bis weit in den Garten schallte. »Ihr habt ja gar nichts zum Sitzen«, sagte er entschuldigend in seine imaginäre Runde von Gästen. Eigentlich war er zu alt für solche Spielchen, aber sie holten ihn immer wieder ein. Er stellte zwei Stühle dazu.
Als Kind hatte er später zu seinen Geburtstagen immer zwei, drei fiktive Freunde eingeladen. »Rudi«, sagte Wim Tanner laut zu dem leeren Stuhl, »schenk doch mal ein.«
Rudi tat, wie ihm geheißen. Er war ein ehemaliger Arbeitskollege aus Klinikzeiten. Sie waren abends oft zusammen durch die Bars gezogen und hatten sich als junge Oberärzte ausgegeben. »Kumpel«, sagte Rudi und reichte ihm ein Glas, »du siehst so alt aus!« Er lachte wiehernd.
»Das kann ganz schnell gehen«, konterte Wim Tanner und trank das Glas in einem Zug aus.
»Auf dich, alter Sack«, sagte jetzt Ulf, ein ehemaliger Schulfreund, und erhob ebenfalls sein Glas. In Wim Tanners Fantasie tranken jetzt alle auf sein Wohl.
»Wenn ihr mir einen Wunsch erfüllen möchtet«, sagte Wim Tanner, »dann lasst uns auf meine Fledermaus anstoßen. Auf mein Mädchen .« Er leerte das dritte Glas. »Schluss jetzt!«, sagte er laut und schnippte mit den Fingern. Rudi und Ulf verschwanden. Wim Tanner hob das
Weitere Kostenlose Bücher