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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Päckchen auf, das immer noch auf dem Boden lag. »An den Jubilar« stand in großen Buchstaben auf dem Packpapier. Er hatte keine Lust, es zu öffnen, tat es aber trotzdem. DasErste, was er sah, war eine Unterhose mit einem gelb-rosa-hellblauen Wellenmuster. Der Mann sank ermattet auf den Stuhl zurück, und das halb geöffnete Päckchen fiel ihm aus den Händen.
    Seit dem Vorfall im Stadion, den sich seine Mutter bei einem Bekannten auf YouTube angesehen hatte, schickte sie ihm regelmäßig Unterhosen. An jenem Tag hatte er eine ebensolche, von ihr geschenkte, Unterhose mit Wellenmotiven getragen, aber nur, weil er keine andere saubere mehr gehabt hatte. Es war eine Notsituation gewesen, in der er morgens nach eben dieser Unterhose gegriffen hatte. Aber seine Mutter hatte die Szene als öffentliche Liebesbekundung gegenüber ihren Unterhosen verstanden und kaufte seither sämtliche Bestände pastellfarbener Unterhosen mit Wellenmuster auf.
    Sein Vater war ganz anders gewesen. Er war ihm nie zu nahe getreten. Er hatte ihn auch gelehrt, dass man Menschen nicht brauchte. Von Beruf war er Kammerjäger gewesen. Der beste weit und breit. Die Leute pflegten viel Geld zu zahlen, damit er sie von ihrem Ungeziefer befreite, aber wenn er ihr Haus wieder verlassen hatte und sie ihn nicht mehr brauchten, mieden sie ihn.
    Sein Vater redete immer mit Pflanzen und unter seinen Händen gediehen sie, als sei ihnen jeder Tag ein Fest. Seinen Sohn weihte er in die Geheimnisse der Pflanzenwelt ein, doch anders als sein Vater hegte Wim Tanner die Pflanzen nicht aus Liebe. Wenn er sie goss, das Unkraut jätete oder die Triebe beschnitt, spürte er seine Macht. An den Pflanzen studierte er die Kunst der Manipulation, und das mit großem Erfolg. Seine »Blumen des Bösen« trugen die herrlichsten Blüten.
    Wim Tanner gähnte. Er holte sich einen letzten Cutty Sark aus der Hausbar und trank. Die Sonne war hinter den Bäumenuntergegangen, aber es würde noch lange hell sein. Die kleinen Buchsbäume unterhalb der Terrasse hatten einen neuen Schnitt nötig, stellte er fest. Und wie es wohl im Gewächshaus aussah? Es gab noch eine zweite Titanenwurz, die theoretisch ebenfalls blühen konnte.
    Die Schlange war wach geworden. Wim Tanner ging zum Terrarium und betrachtete sie. Je größer sie wurde, desto deutlicher zeichneten sich die braunen Streifen auf ihrem Rücken ab. Sie glitt lautlos über den weichen Untergrund aus Holzspänen und trockenen Blättern und suchte nach etwas Essbarem. »Was möchtest du haben?«, fragte Wim Tanner. »Ein Mäuschen?«
    Er ging in die Küche und fand in den Tiefen der Kühltruhe einen Zehnerpack toter Mäuse. Er nahm eine Maus heraus und taute sie in der Mikrowelle auf. Dann knotete er das Tier mit dem Schwanz an einem Bambusstock fest und ging zurück auf die Veranda.
    Die Schlange glitt unruhig im Terrarium auf und ab. Ob Kai Saalfeld sie wohl zuverlässig fütterte?, fragte sich Wim Tanner. Jetzt, wo er wieder in der Villa war, würde er sich lieber selbst darum kümmern. Er nahm den Deckel ab und legte den Stock quer über das Terrarium, sodass die Maus im Inneren hin und her baumelte. Die Schlange legte sich auf die Lauer. Wim Tanner gab dem Stock einen kleinen Stups, und das Mäuschen pendelte nun stärker im Käfig herum. Plötzlich schnellte die Schlange in die Höhe und riss die Maus vom Stock. Mit ihrer Beute im Maul verkroch sie sich in einer Ecke, renkte sich gekonnt den Kiefer aus und verschlang die Mahlzeit durch ihren geweiteten Rachenraum. »Guten Appetit«, sagte Wim Tanner.
    In der nächsten Zeit würde er endlich zeigen können, was in ihm steckte. Kai Saalfeld hatte ihm am Nachmittag gestanden, ihn nicht mehr bezahlen zu können. Vierzehn Jahrehatte er für ihn gearbeitet. Der Mann hatte ihn immerhin aus dem verhassten Krankenhaus herausgeholt. Aber er hatte ihn in den folgenden Jahren auch herumkommandiert. In der saalfeldschen Villa lag auch noch eine zweite Kündigung. Der Konzern beschäftigte ihn natürlich auch nicht als Chefgärtner weiter.
    Kai Saalfeld hatte sich gewünscht, dass Wim Tanner wenigstens für ihn persönlich weiter als Gärtner arbeitete. Den Garten würde Kai Saalfeld als Letztes aufgeben, das war klar. Sie hatten einen Deal gemacht. Wim Tanner würde sich weiter um die Pflanzen kümmern, und dafür bekam er das Mädchen. Das bedeutete, dass er mit ihr machen konnte, was er wollte. Die einzige Bedingung war, dass Kai Saalfeld weiter Zugriff auf ihre Gene haben

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