Haut, so weiß wie Schnee
Seiten irgendetwas gegen die Türen gestellt. Vielleicht Schränke. Sie trat fest gegen die Türen, ohne dass diese auch nur einen Millimeter nachgaben.
Als Jette die oberste Etage erreichte, blieb sie verblüfft stehen. Vor ihr lag ein Ort von eigenartiger Schönheit, der nichts mit der Tristesse der unteren Stockwerke zu tun hatte. Boden und Wände waren wie überall aus Stein. Es gab auch wieder eine Tür. Über alles zog sich jedoch ein prächtiges buntes Glasdach. Es zeigte langstielige Pflanzen mit roten, gelben und lila Blüten, die sich geschmeidig umrankten. Einzelne Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch den verhangenen Himmel bahnten, ließen das Fenster in immer neuen Farben aufleuchten, sodass es merkwürdig belebt wirkte. Während das Glasdach auf der einen Seite gut im Mauerwerk verankert war und die Bildmotive dort auch ihren Abschluss fanden, schien es auf der anderen Seite über das kleine Treppenhaus hinauszureichen. Natürlich, dachte Jette, das ist das Oberlicht aus der Eingangshalle. Sie hatte das Dachfenster vorhin gesehen, als Wim Tanner sie vom Dachgeschoss ins Erdgeschoss gebracht hatte. Das riesige Fenster ragte bis über das kleine versteckte Treppenhaus. Ohne den Blick von dem Schauspiel über ihrem Kopf abzuwenden, legte sie sich auf die Matratze, die auf dem Boden lag, und blickte zu dem Glasdach hoch.
Es gab rote turbanförmige Blüten, die zu nicken schienen, wenn die Sonne sich veränderte. Dann gelb gefüllte Blütenköpfe, die in einem Moment golden erstrahlten, im nächstenzu verwelken drohten. Die langen Stiele der Pflanzen waren gesäumt von schmalen Blättern. Ein Stängel direkt über ihrem Kopf hatte ein besonders kräftiges Grün, und Jette folgte seinen Windungen. Erst nahm er eine sanfte Kurve nach rechts, dann versteckte er sich hinter einer lila Blüte, tauchte wieder auf, traf auf eine andere Blume und wand sich an dieser bis zu ihrem gelben Köpfchen in die Höhe.
Unwillkürlich nahm Jette das Spiel mit ihren Händen auf. Ihre rechte Hand wanderte um ihren linken Arm, fuhr dann weiter zu ihrem Kopf und glitt durch die Haare. Jette, die gelbe Blume, Jonah, der schmale rankende Stiel. Als wäre er jetzt bei ihr, spürte sie seine Hände auf ihrem Kopf, wie er die Finger spreizte und unter ihre Haare schob. Aber dann fiel ihr auf, dass der Jonah-Stängel ja noch viel länger war und sich weiter über das Bild zog. Er ließ die gelbe Jette-Blume hinter sich zurück und bändelte kurz darauf mit einer dieser roten turbanförmigen Blütenblumen an. Jonah, flüsterte Jette. Plötzlich war ihr elend zumute.
Sie hatte solche Kopfschmerzen. Wieso holte sie niemand hier raus? Vor vier Tagen hatten die Sommerferien angefangen, und sie saß hier fest. Die Polizei schien auf ganzer Linie zu versagen. Klara, Charlie und Jonahs Freund hatten immerhin versucht, sie aus dem Tropenhaus zu befreien. Hoffentlich hatten sie alle fliehen können. Sie machte sich Sorgen um sie.
Seit elf Tagen war sie jetzt eingesperrt. Doch bis vor Kurzem war sie wenigstens nicht allein gewesen, sondern hatte Jonah bei sich gehabt. Und als er sie geküsst und berührt hatte, war einen Augenblick alles in Ordnung gewesen. Aber die letzten Tage in Gefangenschaft waren so einsam gewesen, dass sie sich manchmal gefragt hatte, ob sie jetzt wahnsinnig werde. Sie hatte das Gefühl, die Stille nicht mehr länger ertragen zu können. Auf eine unheimliche Artschien sie sich mehr und mehr aufzulösen. Bisweilen hatte sie den Eindruck, schon ganz durchlässig zu sein. Es fehlte nur noch, dass sie wie ein Gespenst vom Boden abhob.
Wer war sie? Die Schönste im ganzen Land, wie Charlie einmal gesagt hatte, als sie aus purem Spaß in einem Geschäft Hochzeitskleider anprobierten? Jonahs Freundin? Gute Frage. Und selbst, wenn ja, dann eine, die wie vom Erdboden verschluckt war. Existierte sie überhaupt noch?
Plötzlich sehnte sie sich furchtbar nach ihren Eltern. Am liebsten würde sie sich wie ein kleines Kind zusammenrollen und sich von ihrer Mutter in den Schlaf wiegen lassen. Was ihre Eltern wohl gerade machten? Sie waren bestimmt fast verrückt vor Sorge um sie. Ihre Mutter, die sie immer ausstattete, als würde sie auf Weltreise gehen, sobald sie auch nur für mehr als fünf Minuten das Haus verließ. Und ihr Vater, der sich über die übertriebene Fürsorge ihrer Mutter immer lustig machte, aber selbst völlig ausgerastet war, als sie einmal nachts den Bus verpasst hatte und zusammen mit Charlie nach Hause
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