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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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getrampt war. Nicht allein, sondern zusammen mit Charlie!
    Doch jetzt waren weder Charlie noch Jonah noch ihre Eltern da. Sie war ganz allein. Ihr stiegen vor Verzweiflung die Tränen in die Augen.
    »Heulsuse!« Das war Jonah. Manchmal kam er und redete mit ihr. Das hatte er schon ein paarmal gemacht, und sie war froh darüber. Begann sie verrückt zu werden?
    »Was geht’s dich an?«, sagte sie angriffslustig.
    »Ich kümmere mich um dich.«
    »Dann komm erst mal her.«
    »Werd ich schon noch tun.«
    »Lass dir nicht zu viel Zeit.«
    »Ich geh nur noch bei der turbanförmigen Blüte vorbei.«
    »Das findest du wohl witzig, was?«
    Jette schaute böse vor sich hin. Die konnten sie alle mal. Dann würde sie sich halt selbst befreien. Sie blickte sich unschlüssig um. Die Tür war natürlich auch hier bestens abgesichert, aber so leicht gab sie sich nicht geschlagen. Sie nahm Anlauf und warf sich mit ihrer ganzen Kraft gegen das Holz. Wie ein Vögelchen, das eine Glastür nicht gesehen hat, sank sie benommen zu Boden. Die Tür hatte sich keinen Millimeter bewegt. Dafür loderte aber der Schmerz in ihrer rechten Seite wieder auf, wo Wim Tanners Schlag sie im Tropenhaus getroffen hatte.
    »Das Glasdach.« Wieder Jonahs Stimme.
    »Ja, und? Was ist damit?«
    »Das ist doch geradezu eine Einladung abzuhauen. Wirf es kaputt.«
    »Und dann?«
    »Kletterst du raus.«
    »Auf einem Sonnenstrahl, oder was?«
    Stille.
    »Jonah?«
    Die Idee hatte zumindest Potenzial. Das musste Jette zugeben. Was ihr fehlte, war eine Leiter. Das Dach war in mindestens vier Metern Höhe. Sie hatte nur einen Tisch, Stühle, eine Toilette und eine Matratze zur Verfügung. Alles nicht hoch genug.
    Jette strich mit den Händen über das Mauerwerk. Man müsste wie Spiderman die Wand hochgehen können, dachte sie. Die Steine waren alt. An einigen Stellen bröckelten die Kanten ab, und die Oberflächen waren zerfurcht. Eine schmutziggraue Patina hatte sich über das Gestein gelegt. Aber etwas irritierte sie. Jette strich erneut über die Fläche. Um einen Stein weiter unten, in der Nähe einer Ecke, fehlte der Mörtel. Sie bückte sich und versuchte, den Stein zu bewegen. Aber die Spalten zu beiden Seiten ließen kaum Platzfür ihre Finger. Sie zog und schob und rüttelte so lange an dem Stein, bis er endlich nachgab und sie ihn herausziehen konnte. Er war schwer und hatte die Größe eines gebundenen Buches. Sie legte ihn vorsichtig auf den Boden.
    Im Inneren der Öffnung war es dunkel. Jette konnte nichts erkennen. Vorsichtig legte sie ihre Hand in das schwarze Loch. Plötzlich fürchtete sie, von einer Schlange gebissen zu werden, und zog die Hand schnell wieder heraus. Angsthase, schalt sie sich und machte einen neuen Versuch. Sie tastete sich vorwärts, und auf einmal berührten ihre Hände eine metallene Oberfläche. In dem Loch war irgendetwas versteckt! Aufgeregt grub Jette ihre Hand tiefer in die Öffnung und zog schließlich eine kleine Schatulle hervor. Sie strich sie mit der Hand sauber, und zum Vorschein kamen feine, in das Metall geätzte Verzierungen – Kreise und geschwungene Linien. Die Schatulle hatte zu beiden Seiten kleine Griffe und mitten auf dem Deckel ein Schlüsselloch. Sie war abgeschlossen. Jette holte den dünnen Draht aus ihrer Hosentasche, mit dem sie schon die Lampe im Tropenhaus manipuliert hatte, und stocherte damit in dem Schlüsselloch herum. Sie bewegte ihr Werkzeug immer wieder hin und her, aber nichts passierte. Sie wollte gerade schon aufgeben, doch auf einmal sprang die Schatulle auf.
    Das Kästchen war mit rotem Samt gefüttert, und drinnen lagen ein Foto, ein besticktes Taschentuch, ein zusammengefalteter Briefumschlag und eine winzige Dose. Jette nahm das Foto vorsichtig in die Hand. Es war vergilbt und hatte gezackte Ränder. Das Bild zeigte eine Frau mit einer weißen Schürze. Ein Dienstmädchen, dachte Jette. Die Frau blickte ernst und angestrengt in die Kamera. Sie war nicht mehr jung, hatte ein rundes Gesicht, eine hohe Stirn und helle krause Haare, die über ihrem Kopf zusammengebunden waren. Jette drehte das Foto um. Rosa Mannscheid,8. Dezember 1921. 1 Das war Sütterlin, eine alte deutsche
    Schrift, nicht einfach zu lesen. In der Schule hatten sie einmal einen solchen Text entziffert. Jette erinnerte sich noch an das komische hochgezogene s.
    Sie nahm die kleine Dose aus der Schatulle und öffnete sie. Jette brauchte eine Weile, bis sie begriff, was sie da vor sich hatte: abgeschnittene Haare von zwei

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