Haut, so weiß wie Schnee
Menschen. Die eine Strähne war blond und dick, das mussten die Haare der Frau auf dem Foto sein. Die andere war dunkel, dünn und nicht viel mehr als ein zarter Flaum. Jette faltete den Briefumschlag auseinander und öffnete ihn. Dann zog sie ein Stück Papier heraus, das nur wenige Zeilen enthielt:
Mein liebes Kind, meine liebe Katharina. Mögen unser Herrgott Dich auf Deinem Lebensweg schützen und mir verzeihen. In Liebe, Mama. 2
Mühsam entzifferte Jette Wort für Wort. Es dauerte lange, aber sie bekam es hin. Und dann wurde ihr klar, was sie hier gefunden hatte. In der Schatulle hatte eine Mutter vor vielen Jahren Erinnerungsstücke für ihre Tochter hinterlegt. Die Mutter musste das Kind zurückgelassen haben. Ob die Tochter noch lebte? Und wie alt sie wohl inzwischen war?
Jette packte die Erinnerungsstücke wieder in die Schatulle und schloss sie. Dann legte sie sich auf die Matratze. So etwas hatte sie jetzt wirklich nicht gebraucht. Sie versuchte, an nichts zu denken. Nicht daran, dass auch ihre Mutter sie als Baby verlassen hatte und sie noch nicht einmal wusste, wie sie aussah, welche Farbe ihre Haare hatten oder ob sie überhaupt noch lebte. Nicht daran, dass ihre Adoptiveltern,die für sie wie richtige Eltern waren, nicht wussten, wo sie selbst jetzt war. Nicht daran, dass sie ganz allein war. Jette blieb einfach liegen und wartete darauf, dass sie sich dem Leben wieder gewachsen fühlte.
»Besser?«, fragte Jonah nach einer langen Zeit.
Jette nickte.
Er strich ihr übers Gesicht. Seine Hände glitten über ihre Stirn, ihre Augen, die Nase, den Mund, die Wangen. »Da ist ja auch das Muttermal«, sagte er.
»Du meinst den Leberfleck?«
»Ich meine das Muttermal.«
Jette musste lachen. Jonah war echt eine Nervensäge. »Ich hab jetzt zu tun«, sagte sie und stand auf. Ihre Beine waren wie Pudding, aber sie trugen sie. Sie fühlte sich wie nach einem Zusammenstoß mit einem Ufo. Nicht ganz sicher darüber, was geschehen war, und bereit, sich über merkwürdige Folgen nicht zu wundern.
Sie hatte jetzt immerhin eine genauere Vorstellung von dem Ort, an dem sie sich befand. Wahrscheinlich war es ein Treppenhaus für Dienstboten, das heute nicht mehr benutzt wurde. Schon damals musste es ein unbeaufsichtigter Ort gewesen sein. Eine Mutter hatte hier ein wichtiges Geheimnis aufbewahrt. Vielleicht hatten noch andere Menschen Dinge in dem Treppenhaus versteckt, die ihr nützen konnten. Vielleicht ein Messer? Vielleicht gab es sogar einen Geheimgang nach draußen. In alten Häusern wie diesem war nichts ausgeschlossen. Sie machte sich an die Arbeit.
Es waren noch mehr Steine locker. Sechs, sieben, acht … Jetzt, da Jette wusste, wonach sie suchte, fielen ihr die Stellen ohne Mörtel sofort auf. Die losen Steine lagen alle nah beieinander. Sie nahm jeden einzelnen heraus, legte ihn auf den Boden und inspizierte das dahinterliegende Mauerwerk.Keine weiteren Schatullen. Auch sonst war alles unauffällig. Die Lücken, die sich auftaten, reichten gerade für die Steine selbst. Jettes Finger schmerzten. Als sie nicht mehr konnte, holte sie sich eine Flasche Mineralwasser und setzte sich hin.
Jette betrachtete die Löcher in der Wand. Noch ein Schluck Wasser. Wieder ließ sie den Blick über die Wand schweifen. Die Löcher folgten einer klaren Anordnung, einem Muster. Sie lagen auf zwei senkrechten Linien. Wie zwei Wege von unten nach oben. Die eine Linie war rechts von einer Ecke, die andere links. Beide Bahnen hatten den gleichen Abstand zur Ecke, jeweils etwa zwanzig Zentimeter, und immer war jeder zweite Stein locker – Löcher, die nach oben führten.
Jette sprang auf. Ihr war heiß vor Aufregung. Vorsichtig setzte sie ihren rechten Fuß in die unterste Öffnung auf der rechten Seite. Der Platz reichte, um dem Fuß Halt zu geben. Sie kippte ihren Körper leicht nach vorn, bis sie sich an der Wand abstützen konnte. Dann hob sie ihren linken Fuß und setzte ihn in das Loch an der Wand gegenüber. Sie stand. Sie befand sich nur wenige Zentimeter über dem Boden, aber sie stand. Sie begann, sich hochzuarbeiten. Mit dem rechten Fuß ein Loch höher. Oberkörper nach vorn kippen und in der Ecke abstützen. Dann den linken Fuß … Sie hatte die Steine bis zu einer Höhe von etwa einem Meter herausgenommen. Bis dahin stieg sie hinauf und nahm die Steine darüber genauer in Augenschein; auch weiter oben fehlte der Mörtel: Sie hatte eine Treppe gefunden.
Die anderen Steine herauszunehmen war schwieriger,
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