Haut, so weiß wie Schnee
als Jette zunächst gedacht hatte. Sie musste höllisch aufpassen, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Je weiter sie mit ihrer Arbeit vorankam, desto weiter nach oben gelangte sie. Sie agierte wie eine Zirkusartistin. Mit den Füßen krallte sie sich in den Einbuchtungen fest, ihren Oberkörper lehntesie gegen die Wand, mit den Händen schob sie vorsichtig die Steine aus den Löchern und warf sie unten auf die Matratze. Es dauerte lange. Wieso es diese Leiter wohl gab? War sie von Anfang an mitgebaut worden, als geheimer Fluchtweg für Notfälle?
Dann war es so weit. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand ab, mit der anderen berührte sie das Glasdach. Es war warm von der Sonne. Zu einer Treppe gehört auch eine Luke, oder?, dachte Jette. Und tatsächlich. Direkt über ihr war in das Glasdach ein kleines Fenster eingelassen. Ein richtiges Fenster mit Scharnier und Riegel. Der Architekt hatte es so unauffällig in die Bleiverglasung eingepasst, dass man es erst auf den zweiten Blick bemerkte. Alle Blumenornamente wurden auf dem Fenster unauffällig weitergeführt. Jette tastete nach dem Riegel, aber er ließ sich nicht bewegen. Das Metall war völlig verrostet. Sie drückte mit der Handfläche gegen das Fenster. Nichts. Das Fenster war wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden. Ich muss die Scheibe einwerfen, dachte Jette. Sie entschied sich zu warten, bis es dunkel wurde. Dann würde sie besser flüchten können. Sie musste nur aufpassen, dass sie beim Einwerfen nicht zu viel Lärm machte.
Weit unten schlug eine Tür. Jette hörte Schritte. Verdammt, durchfuhr es sie. Wim Tanner. Er durfte die Treppe auf keinen Fall sehen. Sie kletterte so schnell wie möglich hinunter. Den letzten Meter sprang sie. Auf der Wendeltreppe nahm sie zwei Stufen auf einmal und hielt sich dabei am Geländer fest, um nicht zu fallen. Sie versuchte, auf Wim Tanners Schritte zu lauschen, hörte aber nichts, bis die Schritte plötzlich ganz nah waren. Jette blieb so abrupt stehen, dass ihr der Schmerz in die Knie schoss. Sie wischte sich die Haare aus der Stirn, versuchte ein unschuldiges Gesicht zu machen und setzte langsam einen Fuß auf die nächste Stufe.Da stand Wim Tanner vor ihr. Oder Señor Caño. Der Mann atmete schwer. Er hielt ein Terrarium in den Händen.
»Was ist denn das?«, fragte Jette automatisch und versuchte, nicht allzu sehr zu keuchen.
»Ein bisschen Gesellschaft«, sagte Wim Tanner und grinste boshaft.
»Eine Schlange?«
»Eine giftige Puffotter. Beißt gern.« Wim Tanner schnellte auf sie zu und machte »Tsssss«. »Sie ist noch ein Baby und schläft nicht gern allein. Ich stell sie dir ans Bett.« Mit diesen Worten drängte er sich an ihr vorbei und nahm Kurs auf das oberste Stockwerk. Jette erstarrte.
»Das würde ich nicht tun!«, rief sie ihm hinterher.
Wim Tanner ging weiter.
Jettes Gedanken rasten. Wie konnte sie ihn aufhalten? Einen Ohnmachtsanfall simulieren? Der Mann war schon außer Sichtweite.
»Das würde ich nicht tun!«, rief sie noch mal. »Auf dem Dach sind Tauben. Die Schlange wird sich zu Tode fürchten. Sie denkt, das sind Raubvögel, die sie gleich fressen.« Wim Tanner blieb stehen. »Immer in Todesangst!!!«, setzte Jette noch eins drauf. »Das können Sie der Schlange doch nicht antun!« Wieder Schritte. Wim Tanner kam zurück.
Jette setzte sich an den Tisch. Ihr war schlecht vor Aufregung.
Dann stand Wim Tanner wieder vor ihr, mit dem Terrarium in der Hand. Er stellte es auf den Tisch.
»Ich wusste gar nicht, dass du so einfühlsam bist«, sagte er grinsend. Wieder verzog sich sein Señor-Caño-Gesicht zu einer Fratze. »Schieb mal deinen Ärmel hoch.«
»Was?«
»Ärmel hoch«, sagte Wim Tanner. »Gleich wird’s noch einfühlsamer.«
Er hielt eine Spritze in der Hand.
Jette rührte sich nicht.
Wim Tanner packte sie am Kinn, wie er es schon öfter getan hatte. »Such’s dir aus«, herrschte er sie an. »Entweder du tust, was ich sage, oder ich kette dich wieder an.«
»Was ist das?«
»Wird’s bald!«
»Was ist das?«, fragte sie wieder. Ihre Stimme bebte.
Wim Tanner deutete auf sein Hörgerät. »Wie bitte?«, fragte er hämisch. Ein Ausdruck brutaler Zufriedenheit lag auf seinem Gesicht. Er riss den Ärmel selbst hoch. Dann zog er eine kleine Hautfalte an ihrem Oberarm in die Höhe und stach mit der Spritze hinein. Es tat weh. Jette sah, wie eine helle Flüssigkeit aus der Spritze in ihren Körper floss. Als Wim Tanner fertig war, packte er
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