Haut, so weiß wie Schnee
seine Spritzutensilien ein und ging.
Jette blieb reglos sitzen und starrte die Schlange an. Das Tier kroch züngelnd umher. Was hatte ihr Wim Tanner gespritzt? Sie stand langsam auf und machte sich auf den Weg nach oben.
Es war spät geworden. Wim Tanner saß im Baumhaus am Gartenteich und schaute seinen Fledermäusen zu. Von dieser erhöhten Position aus konnte man die Tiere gut beobachten. Er hatte ihnen am Tropenhaus ein Flugloch gebaut, sodass sie jederzeit hinein und hinaus fliegen konnten. Wim Tanner wartete auf seinen neuen Liebling. Vielleicht hatte er eine würdige Nachfolgerin für sein Mädchen gefunden. Da kam sie! Sie flog schneller als die anderen, er hatte sie sofort erkannt. Hinter sich hörte Wim Tanner ein leises Klirren. Er drehte sich um, warf einen Blick auf die Villa, sah aber nichts Außergewöhnliches. Als er sich wieder seiner Fledermaus zuwenden wollte, war sie bereits in der Dunkelheit der Nacht verschwunden.
Dann gab es einen ohrenbetäubenden Lärm. Es klang, als sausten Eisbrocken aus großer Höhe zu Boden und zersplitterten in Tausenden von kleinen Teilchen. Oder Glasplatten. Es klirrte und krachte und prasselte. Dann wieder ein lautes Krachen. In Kai Saalfelds Zimmer ging das Licht an. Wim Tanner schaute gebannt zur Villa. An einer Seite des großen prächtigen Glasdaches klaffte ein Loch, das mit jedem Moment größer wurde. Die bereits herabhängenden Glasplatten rissen rechts und links alles mit sich in die Tiefe. Wie bei einem Dominospiel fiel nach und nach das gesamte Dach in sich zusammen. Es war alt und marode gewesen. Das schon. Aber irgendetwas musste es zum Einsturz gebracht haben. Wim Tanner sah, wie sich in der Nähe des Schornsteines eine Gestalt aufrichtete. Die Silhouette war gut zu erkennen. Vorsichtig balancierte das Mädchen über das Dach.
Eine schlimme Nachricht
Als Jonah durch die Tür in Annas Hinterzimmer trat, dachte er eine Sekunde lang, Jette wäre da. Alles war wie an jenem Nachmittag, als sie sich kennengelernt hatten. Er hätte schwören können, dass ein leichter Geruch von Himbeergeist in dem Raum hing.
Die Wanduhr tickte wie immer übertrieben laut vor sich hin. Und auch jetzt bewegte sich der Schaukelstuhl am Fenster mit einem leisen Knarren. An jenem Tag hatte ihn die Katze in Bewegung gehalten. Jetzt saß dort wahrscheinlich eines der Mädchen.
»Hallo«, sagte Jonah in das Zimmer hinein.
»Hi«, sagte Charlie.
»Dukie hat gerade angerufen«, sagte Klara. »Er hat was herausgefunden. Hat aber nicht gesagt, was. Er kommt, so schnell er kann.«
»Typisch Dukie«, murmelte Jonah. »Wenn er irgendwann mal direkt sagt, was Sache ist, werde ich mir ernsthaft Sorgen um ihn machen.«
Sie hatten jetzt bei Anna eine Art Hauptquartier. Er, Dukie, Klara und Charlie. Nachdem Wim Tanner Jette auf dem Acker mitgenommen hatte, war ihnen sofort klar gewesen, dass sie gemeinsam nach ihr suchen mussten. Daher hatten sie auch Annas Angebot, das Hinterzimmer des Kiosks als Treffpunkt zu nutzen, gleich angenommen. Hier kamen sie nun jeden Morgen zusammen, tauschten Informationen aus, besprachen das weitere Vorgehen und machten sich Mut. Da Sommerferien waren, konnten sie sich ganz auf die Suche konzentrieren.
Jette war inzwischen seit zwei Wochen verschwunden. Sechs Tage war sie mit Jonah im Tropenhaus eingesperrt gewesen. Acht lange Tage wurde sie nun an einem anderen Ort gefangen gehalten, allein, ohne Jonah. Sie war jetzt schon länger in der Gewalt von Wim Tanner, als Jonah sie kannte. Das war ihm heute Morgen beim Zähneputzen aufgefallen, und er hatte plötzlich eine unbändige Angst davor bekommen, dass er Jette womöglich niemals wiedersehen würde.
»Wir fangen am besten direkt mit der Lagebesprechung an«, sagte Jonah jetzt und setzte sich an den kleinen Tisch. »Wer weiß, wann Dukie hier auftaucht …« Er wandte seinen Kopf zur Couch, wo er Klara vermutete. »Gibt’s was Neues von der Polizei?«
Klara raschelte mit Papier. »Eine ganze Menge«, sagte sie und holte tief Luft.
Jonah war ihr dankbar. Sie akzeptierte, dass er das Tempo vorgab, und schien zu verstehen, dass er nicht anders konnte. Vom ersten Augenblick an, als er im Krankenhaus ohne Jette aufgewacht war, hatte er das Gefühl gehabt, voranstürmen zu müssen, sie mit aller Kraft finden zu müssen. Er hatte seine Aussage gemacht, sich einen Blindenstock besorgt und dann das Krankenhaus verlassen. Noch am selben Nachmittag hatten er und Dukie der Polizei beim Durchsuchen der Villa
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