Haut, so weiß wie Schnee
kaum wehren können. Sie hatten von Anna den eindeutigen Auftrag erhalten, ihr Jette zurückzubringen. Und Anna sah es als ihre Aufgabe an, ihnen die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bieten. »Lasst euch nicht stören«, sagte sie und verließ das Zimmer.
»Nächstes Thema«, sagte Jonah und nahm einen Schluck Tee. »Was machen wir mit diesem Medienrummel? Einfach laufen lassen?«
»Es wird immer schlimmer«, gab Charlie zu bedenken, während sie in ihrem Schaukelstuhl mit dem Kaffee hantierte. Sie war die Einzige, die Kaffee trank.
»Jetzt gibt es Jette schon als Poster. Doppelseitig. Zum Herausnehmen. Hat mir Anna heute Morgen gegeben.«Sie klopfte mit den Fingerknöcheln auf ein Papier in ihrer Hand.
Seit einigen Tagen spielte die Presse völlig verrückt. Anfangs hatten sich die Zeitungen noch mit Jettes offiziellem Vermisstenfoto zufriedengegeben. Aber dann hatte Jonah Jettes Eltern vorgeschlagen, auch ein paar private Fotos weiterzugeben. »Je mehr Leute wissen, wie sie aussieht, desto eher erkennt sie vielleicht jemand«, hatte er gesagt.
In kürzester Zeit war das Land süchtig gewesen nach immer mehr Jette-Fotos. Sie galt inzwischen als das schönste Mädchen im ganzen Land. Täglich tauchten neue Bilder von ihr auf. »Jette am Strand«, »Jette auf dem Fahrrad«, »Jette beim Einkaufen«. Wer immer irgendwann einmal ein Foto von ihr geschossen hatte, schien es in diesen Tagen für viel Geld zu verkaufen.
Die Journalisten legten täglich mit neuen Berichten über das »traurige Schneewittchen« nach, und dabei schien es niemanden zu stören, dass sie meistens gar keine neuen Informationen hatten. Sie rührten einfach aus den Zutaten »schönes Mädchen«, »Verbrechen«, »Geheimnis« und »Tragödie« immer neue Geschichten an.
Die Medien hatten begonnen, Jette als tragischen Popstar zu inszenieren, als fernes, melancholisches Idol. Eine Rolle, in der sie immer präsenter wurde und durch die sie die Jette aus Fleisch und Blut, die Jonah kannte, immer mehr zu verdrängen schien. Am Anfang hatten die anderen Jonah noch auf die Bilder aufmerksam gemacht. Aber seit einigen Tagen ließen sie es bleiben. Es war klar, dass er litt. Er wünschte sich die lebendige Jette zurück.
»Wir müssen uns überlegen, ob es Jette nützt oder schadet, dass überall Fotos von ihr gezeigt werden und alle über sie reden«, sagte Jonah. »Die Polizei könnte von der Presse schließlich auch Stillschweigen verlangen.«
»Auf jeden Fall darf es nicht passieren«, sagte Charlie, »dass sich Wim Tanner in die Enge getrieben fühlt und in einer Kurzschlussreaktion …« Sie verstummte.
»Vielleicht sollten wir erst mal mit Jettes Eltern sprechen und sie fragen, wie sie das sehen«, sagte Klara.
Die Tür ging auf. »Hi«, sagte Dukie. Leichter Fischgeruch zog ins Zimmer. Jonah fühlte sich in das Dachgeschoss der saalfeldschen Villa versetzt. Inzwischen lebte Dukie allerdings mit seiner Mutter bei Verwandten und, soweit Jonah wusste, ganz ohne Seen- und Ozeanlandschaft. Dukie hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Das Verschrobene, Eigenbrötlerische, was er an sich gehabt hatte, war verschwunden, als hätte sich ein eingesperrter Geist gereckt und gestreckt und wäre frei ins Leben hinausgetreten.
Jonah hatte Dukie vor ein paar Tagen darauf angesprochen, und sein Kumpel hatte sehr überlegt geantwortet: »Ich wollte immer, dass mein Vater mich mag. Dass er sich um mich kümmert. Mit dem Abhören wollte ich ihm eigentlich nur ein weiteres Mal zeigen, was ich alles kann. So von hinten durchs Knie. Verstehst du? Als du dann Jette warnen wolltest, hatte ich Angst, dass alles auffliegt. Dass mich mein Vater rausschmeißt und alles verloren ist. Deshalb hab ich dir nicht geholfen. Aber als er euch dann entführt hat, war für mich auf einmal Schluss. Es war gar nicht schwierig. Ich bemühe mich nicht mehr um ihn. Es ist vorbei.«
Noch bevor Jonah etwas erwidern konnte, hatte Dukie den Ball zurückgespielt. »Und seit wann fährst du allein Straßenbahn?«, wollte er wissen.
Jetzt knackte Dukie mit den Fingerknöcheln. Ein Zeichen, dass er sich unwohl fühlte. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte er launig. »Welche wollt ihr zuerst hören?«
»Die gute, um uns zu wappnen«, sagte Klara und stieg auf den lockeren Tonfall ein. »Die schlechte danach. Um die müssen wir uns sowieso länger kümmern.«
»Gute Wahl«, sagte Dukie. »Mmh, Lakritzfische …«
»Dukie!!«, unterbrach ihn Jonah.
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