Haut, so weiß wie Schnee
das Gefühl hatte, es nicht mehr auszuhalten. Braune flirrende Fetzen zogen vor seinen Augen vorüber. Jette war in den Händen von richtigen Verbrechern. Sie war nicht einfach nur eingesperrt, damit man ihr Blut untersuchen konnte, was ja schon schlimm genug war. Sie war in ernsthafter Gefahr. Und er hatte es so weit kommen lassen. Warum war er nicht direkt zur Polizei gegangen, als er im Dachgeschoss von den heimtückischen Plänen erfahren hatte? Warum hatte er Jette in jener Nacht nicht schnell genug auf dem dunklen weiten Acker versteckt? Warum hatte er ihren Eltern vorgeschlagen, noch mehr Fotos an die Presse zu geben?
»Ich geh zur Polizei«, sagte Dukie. »Charlie, kommst du mit?«
Wieso Charlie?, dachte Jonah.
»Lass uns lieber gehen«, sagte Klara und stand auf. An der Tür blieb Dukie noch einmal stehen, als wolle er noch etwas sagen. Aber offenbar fiel ihm nichts Passendes ein. Ohne ein weiteres Wort verließ er mit Klara den Raum.
»Weißt du«, sagte Charlie nach einer längeren Pause, »als Baby hat Jette einmal in der Nacht aufgehört zu atmen. Das war noch auf der Säuglingsstation. Genau in dem Moment ist ein Arzt in das Zimmer gekommen, der sich eigentlich nur in der Tür geirrt hatte. Er hat sie sofort beatmet, und es ist nichts passiert. Das hat sie mir mal erzählt. Als Dreijährige ist sie bei ihrer Oma aus dem Fenster gefallen. Zweiter Stock. Unten stand eine Schafherde. Sie hat sich nichts getan. Aber zwei Tiere hatten die Beine gebrochen. Der Schäfer musste die Beine schienen. Und mit sieben Jahren hat sie eine Handvoll Eibenbeeren gegessen. Auch da ist nichts passiert. Sie hat auf keinen einzigen Kern draufgebissen, denn das Giftige sind die Kerne. Und letzten Sommer hing sie mit ihrem Handkettchen unter Wasser an einer Pflanze fest. Das war am Baggersee. Sie hat gezogen und gezerrt und ist nicht losgekommen. Auf dem Grund lag an genau der Stelle eine Glasscherbe. Mit der hat sie die Pflanze abgeschnitten.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Jonah.
»Jette hat einen Schutzengel«, sagte Charlie.
Jette im Erdloch
Es hatte wieder angefangen zu schneien, und Jette spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Aber Jonah lief einfach weiter. Obwohl seine Füße tief im Schnee einsanken, wurde der Abstand zwischen ihnen größer. Jooonaaah!, versuchte sie zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Die Schneeflocken kamen jetzt von allen Seiten. Langsam verblasste Jonahs Gestalt im Schneetreiben. In der Ferne hörte sie ein dumpfes Grollen, das immer lauter wurde. Es schien näher zu kommen. Riesige Schneemassen türmten sich auf einmal vor ihr auf. Dann schlugen sie über ihr zusammen, rissen sie mit sich fort, drückten auf ihren Körper, schoben sich in ihren Mund, in die Nase, in die Ohren.
Luft, dachte sie. Ich brauche Luft! Jette fuhr aus ihrem Albtraum hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. Um sie herum war es dunkel. Sie legte ihre Hände auf ihr Gesicht – kein Schnee. Ich habe nur schlecht geträumt, versuchte Jette sich selbst zu beruhigen. In ihrem Kopf pochte es, und sie hatte Schüttelfrost. Sie atmete tief durch und zog die Knie an. Die Stoffdecke, die sie hatte, war viel zu dünn für das kalte Erdloch, in dem sie sich befand. Sie tastete nach der Kopflampe, die sie am Vorabend neben sich auf der Matratze abgelegt hatte. Wie dunkel es hier war! Gar nicht weiß wie in dem Traum, sondern ganz schwarz. Aber machte das einen Unterschied?
Bei ihrem Fluchtversuch aus der Villa war alles schiefgegangen. Das gesamte Glasdach war eingestürzt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sofort waren überall die Lichter angegangen. Der Lärm hatte anscheinend das ganzeHaus aufgeweckt. Jette hatte durch das offene Fenster in das Zimmer von Dukie einsteigen können und sich hinter einer Kommode versteckt. Weil es ihr zu gefährlich erschien, die Flucht durch den Garten direkt anzutreten, hatte sie erst mal abgewartet, in der Hoffnung, dass Wim Tanner die Suche nach ihr bald aufgeben oder ein Polizeibeamter das Zimmer betreten würde. Aber es war anders gekommen. Bereits nach wenigen Minuten war Wim Tanner in das Dachzimmer gepoltert, und seine Fledermaus hatte ihr Versteck aufgespürt. Während sie selbst die Fledermaus nicht aus den Augen gelassen hatte, aus Angst, von ihr gebissen zu werden, hatte Wim Tanner ihr einen stechend riechenden Wattebausch ins Gesicht gedrückt. In diesem Erdloch war sie irgendwann wieder aufgewacht. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen war.
Wo
Weitere Kostenlose Bücher