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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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sein Kinn ein wenig weiter herunter, als hätte er Mühe, den Kopf hochzuhalten.
    Caffery ging einen Schritt weiter. Und noch einen. Tanner starrte ihn unter schweren Lidern an; ein Tropfen Speichel hing an seiner Unterlippe.
    Etwas mehr als eine Armlänge entfernt blieb Caffery stehen; er hielt die Waffe vor sich und betrachtete den seltsamen kleinen Mann mit dem drahtigen Haar und dem fahlen, schorfigen Gesicht. Aus dieser Nähe sah er, dass Tanner zitterte. Er schwenkte die Pistole hin und her, und Tanners Augen folgten dem Lauf mit stumpfem Blick, aber er rührte sich nicht und versuchte nicht, nach der Waffe zu greifen. Der Speicheltropfen dehnte sich zu einem langen Faden, riss schließlich ab und fiel zu Boden. In dem Speichel war Blut. Allmählich begann Caffery zu verstehen. Er schaute Tanner zu. »Was haben Sie getan?«
    »Verpiss dich«, murmelte Tanner. Er zitterte jetzt heftig. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Verpiss dich und stirb.«
    Er hob matt die Hand, als wollte er Caffery schlagen, aber die Anstrengung war zu groß, und er ließ sie schwer atmend wieder in den Schoß fallen.
    Und jetzt erkannte Caffery den Grund. Das Hemd auf der der Treppe abgewandten linken Seite wies einen langen Blutfleck auf, der vom Kragen bis zur Taille reichte. Caffery beugte sich vor, nicht so weit, dass Tanner ihn anspucken oder packen konnte, aber weit genug, um die Wunde an seinem Hals zu sehen.
    »Scheiße«, flüsterte er. »Sieh mal an.«
    Der Riss im Hals begann vorn, zog sich diagonal aufwärts und verschwand im Nacken unter dem Haaransatz. Caffery konnte tief in die Wunde hineinschauen, und er sah das matte Glänzen einer Kugel, die im Schädelknochen hinter dem Ohr steckte.
    Tanner klapperte mit den Zähnen.
    »Hast du dich erschossen, du feiges Stück Scheiße. Man soll nichts Böses tun, wenn man die Konsequenzen nicht tragen kann. Wusstest du das nicht? Man soll sich nicht...«
    Er brach ab. Schaute die Pistole an. Schaute die Wunde an. Schaute aus dem Fenster auf den leeren Swimmingpool, der blau in der Sonne leuchtete. Nein. So konnte es nicht gewesen sein. Tanner hatte keine Zeit gehabt, die Sickergrube zu öffnen, hierher zurückzukehren und einen Selbstmordversuch zu unternehmen. In der Grube hätte man den Schuss vielleicht nicht gehört, aber am Pool, wo Caffery in der fraglichen Zeit gewesen war, zumal bei offenem Fenster. Und das Blut auf dem Hemd - zum Teil war es schon dunkel verkrustet.
    Er blickte noch einmal aus dem Fenster und drehte sich dann wieder zu Tanner um.
    »Das stimmt alles nicht«, sagte er leise und fasziniert. »Alles nicht.«
    Und wie zur Antwort vernahm er vor dem Haus ein dünnes Surren, dann das Knattern eines Zweitaktmotors. Ein Rasenmäher. Nein. Es klang gedämpfter, eher wie ein kleiner Motorroller.
    Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Tanner hatte den Schachtdeckel nicht geöffnet - konnte es nicht mehr. Er hatte die ganze Zeit hier gesessen und auf den Boden geblutet.
    So schnell es ging, hinkte Caffery die Treppe hinunter, durch den Kühlraum und hinaus auf die kiesbedeckte Zufahrt. Mitten auf dem Weg blieb er stehen und spähte nach Süden, wo das Motorgeräusch verhallte. Der Fahrweg war leer bis zu einer scharfen Kurve ungefähr hundert Meter weiter hinten; danach konnte man ihn nicht mehr zu sehen. Das Geräusch des Rollers verklang in der unbewegten Luft, und Caffery hörte nur noch die Vögel in den Bäumen.
    Der Tokoloshe. Arnos Chipeta.
    Caffery stand im gesprenkelten Sonnenlicht und starrte zu der Kurve des Fahrwegs hinunter. Was zum Teufel soll ich von dir denken? Was, zum Teufel, willst du?
    Ohne ersichtlichen Grund hatte er Caffery das Leben gerettet und damit ein Fass voller Scheiße für sich selbst geöffnet, die er in Ewigkeit nicht wieder wegschaufeln konnte. Die Haare, die er den Leichen abgeschnitten hatte, waren eine Sache - wahrscheinlich wäre er damit noch davongekommen -, aber Tanner zu erschießen? Dafür würde man ihn genauso schnell drankriegen wie Tanner. Selbst wenn er einen Polizisten gerettet hatte.
    Aber wie das Leben manchmal so spielt - als Caffery der stillen Straße den Rücken kehrte und wieder ins Haus und hinauf zu Tanner humpelte, wo die Nachmittagssonne den Boden wie Sirup glänzen ließ, stellte er fest, dass das Blatt sich noch einmal gewendet, dass sich in dieser Geschichte eine neue Tür geöffnet hatte. Und diesmal war es eine, durch die sie beide - er und Arnos Chipeta - hindurchschlüpfen konnten wie

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