Hautnah
Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte. Zu ihrem Verdruss standen Gina und ihre Töchter noch immer am Straßenrand und winkten ihr durch den wabernden Hitzedunst hinterher. Es passte zu Gina, zu winken und zu winken, bis die Person, von der sie sich verabschiedete, nicht mehr zu sehen war. Aber darüber hinaus legte es auch die Vermutung nahe, dass sie Verdacht schöpfte.
Doch was machte das schon für einen Unterschied? Während Lara über die sich windende Straße den Berg hinauf und schließlich über das grasbewachsene Plateau am Gipfel fuhr, schüttelte sie ganz allmählich die lähmende Angst vor Konsequenzen ab, die sie in ihrem Leben so sehr gehemmt hatte.
Am höchsten Punkt, von wo aus man meilenweit in die Ferne blicken konnte, wellten sich die Hügel blau in blau unter einem khakifarbenen Himmel. Blitze – so weit weg, dass Lara nicht einmal das Wispern eines Donners hören konnte – zuckten über den am weitesten entfernten Kamm und entluden knisternd ihre Elektrizität in die warme, flanellweiche Luft. Nach Westen schauend, über eine Landschaft von solcher Weite und Leere hinweg, dass die europäische Vorstellungskraft sie gar nicht zu fassen vermochte, kam Lara die Gewissheit, dass auf dieser Erde alles möglich war.
Auf der anderen Seite tauchte sie wieder in den Wald ein und bog nach einer Weile mit knirschenden Reifen von der Kiesstraße auf den Waldweg ab, der sie schließlich bis vor Stephens Tor führte.
Sie las die Zahlenkombination von ihrem Arm ab und tippte sie in das Tastaturfeld ein. Sie fuhr durchs Tor und zwang sich zu warten, bis es sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann rumpelte sie – zu schnell für einen Wagen mit derart alten Stoßdämpfern – über die steinige Zufahrt, die zwischen Bäumen hindurch zu dem magischen Haus führte, das Stephen gebaut hatte.
Sie parkte zwischen seinem zerbeulten Wrangler und der hölzernen Garage und stellte den Motor ab. Die Fahrt bei geöffneten Fenstern hatte Straßenstaub ins Auto geweht; und als sie sich die Lippen leckte, schmeckte sie körnigen Sand. Es war das allererste Mal in diesem Land, dass sie nichts hörte. Die Stille war so tief, dass ihr die Ohren klingelten. Kein Insekt, kein Vogel, kein Tier gab einen Laut von sich.
Das musste das herannahende Gewitter sein. Ihr Oberteil war schweißgetränkt, und hinter ihren Augen summte es.
Nicht nur auf Stephens Lichtung war es still, auch im Haus schien sich nichts zu regen. Sämtliche Jalousien und Vorhänge waren geschlossen. Ihr Herzschlag dröhnte in ihrem Kopf. Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Sein Wagen war da, er musste also irgendwo in der Nähe sein. Sie sah sich im Garten um. Der Wald jenseits des Rasens konnte alles und jeden verbergen.
Nichts, nicht einmal das Beben eines Zweiges, ließ erahnen, dass sie etwas anderes betrachtete als eine Fotografie oder das Standbild zu Beginn oder Ende eines Films.
Ein aufzuckender Blitz war der Vorbote eines leisen Donnergrollens. Der Himmel verdunkelte sich, und Lara fühlte sich an die Sonnenfinsternis von 1999 erinnert, die sie – wie so oft allein – mit ihren zwei kleinen Kindern auf einem Campingplatz in Sussex verfolgt hatte.
Dann hörte sie das Geräusch – ein unregelmäßiges Knallen und Knacken wie von brechenden Knochen – der ersten dicken Regentropfen, die sich durch die zähe Luft gekämpft hatten und auf glatten Blättern landeten.
Ihr behagte nicht, dass das Haus so verschlossen wirkte. Sie widerstand dem Drang, sich ins Auto zu setzen, zurückzufahren und alles zu vergessen. Was auch immer sie hier erwartete, sie musste ins Haus gehen.
Sie ging über die Schlangenwiese zur Hintertür und öffnete sie mit dem Schlüssel, den Stephen ihr überlassen hatte. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Draußen war es dämmrig gewesen, doch das Innere des Hauses kam ihr vor wie ein Grab. Sie stand still und wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah sie durch die Küche in den Wohnbereich hinüber. Dort, vom Schein einer schwach leuchtenden Tischlampe erhellt, konnte sie die Umrisse einer Gestalt auf dem Ledersofa ausmachen.
Diese Gestalt hatte eine Waffe in der Hand und zielte damit direkt auf sie.
Mit einem Aufflackern von Panik hörte Lara das Klicken, als das Gewehr entsichert wurde. Einen Moment lang musste sie an ihre Begegnung mit dem Bären denken. Die Gefahr jetzt war weitaus größer.
Ein Blitz, der zeitgleich mit einem
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