Hautnah
lief Lara nach oben in ihr Schlafzimmer, wo Jack in seinem Nest auf dem Fußboden noch seelenruhig schlummerte, und warf einen Blick in die Kammer. Dort sah alles anders aus. Die Arzneimittel standen jetzt auf dem untersten Regal, wo vorher Jacks Spielsachen gewesen waren. Die Spielsachen wiederum lagen ganz oben. Das rosafarbene Blümchenkleid, aus dem sie angeblich »hervorquoll«, hing an der Tür, und dort, wo ursprünglich Jacks Kleider gewesen waren, die nun auf dem Boden verstreut lagen, stapelte sich, gebügelt und gefaltet, die gestohlene Wäsche.
Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie rannte von einem Zimmer ins nächste, um sich zu vergewissern, dass der Eindringling nicht noch im Haus war. Aber abgesehen von der üblichen Unordnung – zerwühlte Betten, Haufen feuchter Handtücher auf den Bettlaken –, waren Ollys und Bellas Zimmer leer. Sie mussten schon frühmorgens mit ihren jeweiligen Freunden losgezogen sein. Wenigstens hoffte Lara das.
Nachdem sie auch im Erdgeschoss alles überprüft hatte, verriegelte sie die Türen und versuchte, Stephen anzurufen, aber er nahm nicht ab. Sie spielte mit dem Gedanken, auf der Stelle zu ihm zu fahren, aber was sollte sie mit Jack machen? Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste bleiben, wo sie war.
Im Laufe des Vormittags, während sie ungeduldig darauf wartete, dass es endlich Zeit wurde, Jack zur Probe zu bringen und zu Stephen zu fahren, versuchte sie es immer wieder bei ihm.
Es nahm niemand ab.
Sie hatte gerade das Telefon in die Hand genommen, um es ein weiteres Mal zu versuchen, als vorn an die Haustür geklopft wurde. Sie schlich ins Wohnzimmer und spähte durchs Fenster. Auf der Veranda stand ein großer, stämmiger Mann.
»Lara? Hallo? Ich bin’s, Danny«, rief er zu den geöffneten Fenstern im oberen Stock hinauf.
Sie hatte völlig vergessen, dass heute das Reinigungsritual stattfinden sollte. Froh über die Gesellschaft eines Erwachsenen, lief sie zur Tür.
»Danny, vielen Dank, dass Sie gekommen sind.«
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber bestimmt nicht den Mann, der nun vor ihr stand. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen – er hätte vierzig sein können oder fünfundsechzig. Er trug gepflegte Khakihosen und ein gebügeltes Baumwollhemd, hatte eine lederne Tasche über der Schulter und kurze, von Silber durchzogene Haare. Er hätte ebenso gut ein Immobilienmakler sein können, der gekommen war, um das Haus potentiellen Käufern zu zeigen.
Stattdessen war er ein indianischer Schamane, der ihr Haus von seiner negativen Aura befreien wollte.
Er trat in den Flur und schaute sich um.
»Das hier ist der schlimmste Teil des Hauses«, erklärte Lara. »Hier halte ich es gar nicht aus.«
Danny schloss die Augen und stand, die Hände vor dem Körper gefaltet, ganz still da. Nach wenigen Minuten löste er sich aus seiner Starre und wandte sich zu Lara.
»Zeigen Sie mir auch die anderen Räume.«
Sie führte ihn zunächst durchs Erdgeschoss und schilderte ihm auf dem Weg die Treppe hinauf die Situation mit dem Keller. Oben ging sie mit ihm zuerst in Ollys Zimmer. Danny blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete stirnrunzelnd die gräulich verfärbte Bettwäsche und die sich darauf türmenden dreckverkrusteten Kleider.
Als Nächstes zeigte Lara ihm Bellas Zimmer, wo diese, sehr zu Laras Erstaunen, ihren zerzausten Kopf unter einem Berg Wäsche auf dem Bett hervorstreckte, den Lara für einen Haufen zerknüllter Decken gehalten hatte. Sie funkelte die Eindringlinge an.
»Kannst du nicht anklopfen?«, sagte sie und schirmte die Augen vor dem staubigen Licht ab, das durch die geöffnete Tür ins Zimmer fiel.
»Tut mir leid, Schatz, ich dachte, du wärst nicht da. Geht es dir gut?« Sie trat zum Bett, um Bellas Stirn zu fühlen, aber bei der Hitze im Zimmer war es unmöglich zu sagen, ob sie Fieber hatte oder nicht. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie und legte ihrer Tochter eine Hand auf den Arm.
»Beschissen«, murmelte Bella.
»Bestimmt würde es dir guttun, wenn du aufstehst und ein bisschen an die frische Luft gehst«, schlug Lara ihr vor.
»Ja, klar.« Bella zog sich die Decke wieder über den Kopf und drehte sich von ihrer Mutter weg.
»Entschuldigen Sie«, sagte Lara an Danny gewandt. Der betrachtete gerade das Foto, das an Bellas Fensterrahmen lehnte.
»Das ist ein Foto der armen Jane Larssen«, erklärte Lara und trat neben ihn. »Soll ich es wegnehmen?«
Danny schüttelte den Kopf. »Das Foto ist nicht das
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