Hautnah
dies innerhalb weniger Tage in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie war froh, dass sie nun endlich mit Stephen darüber sprechen und dann gemeinsam mit ihm zur Polizei gehen konnte.
Falls es ihr gelang, ihn zu finden.
Sie eilte zum alten Volvo. Dreimal drehte sie den Zündschlüssel um, ohne dass etwas geschah: Der Motor gab keinen Mucks von sich, nicht einmal ein Stottern. Ginas großzügig mit Ausrufezeichen gespickter Gebrauchsanleitung folgend, die in einem kleinen braunen Buch im Handschuhfach gelegen hatte, holte Lara den »Megariesenschraubenschlüssel!« aus dem Kofferraum, machte den »bockigen Anlasser!« ausfindig und versetzte ihm einen »mordsmäßigen Schlag!«.
Der ungewöhnliche Trick zeigte Wirkung, und Lara lenkte den röhrenden Wagen auf die Main Street. Sie schwitzte. An diesem Abend war es besonders drückend. Die heiße, schwüle Luft lag dumpf auf ihr, und natürlich funktionierte die Klimaanlage des Volvo nicht. Auch ohne an ihre eigene Situation zu denken, war da dieses Gefühl, als stünde etwas unmittelbar bevor, wie ein Sturm, der aufzog. Dazu gesellten sich noch das Brennen in ihrem Unterleib und das Kribbeln zwischen ihren Beinen wie von tausend Stecknadeln. Sie war drauf und dran, etwas Falsches zu tun, sich vielleicht sogar in Gefahr zu begeben, und das machte sie ganz schwindlig.
Es war, als wäre sie wieder neunzehn und auf dem Weg zu Stephens Dachwohnung in Stratford, wo seine extravagante Vermieterin, eine Frau mit einem Faible für Textilblumen und Judy-Garland-Filme, sich diskret zurückzog, wann immer ihr »junger Herr Schauspieler Besuch empfing«. Rückblickend sah Lara diese Zeit als eine Zeit der Unschuld, und obwohl sie in Wahrheit natürlich alles andere gewesen war als unschuldig, traf diese Charakterisierung, im Vergleich zu dem, was jetzt auf dem Spiel stand, durchaus zu.
Ihrer Sorge wegen der unbeantworteten Telefonate und der Vorstellung, was vielleicht gerade in Stephens Haus vor sich ging, war es zuzuschreiben, dass Laras Fuß das Gaspedal des Volvo ein wenig zu beherzt durchtrat.
Allerdings war sie noch gar nicht weit gekommen, da musste sie schon wieder anhalten. Jemand war auf die Idee gekommen, an der Main Street Straßenarbeiten durchzuführen, die bisher noch nicht weiter gediehen waren, als dass man direkt vor Ginas Haus eine temporäre Ampel mit extrem langer Rotphase aufgestellt hatte. Während Lara, auf dem heißen Ledersitz allmählich zerfließend, vor dieser Ampel stand und den nicht existierenden Gegenverkehr auf der einzigen freien Fahrspur abwartete, baute sie Stephens Was wäre wenn im Geiste zu einem detaillierten Szenario aus, in dem sie die Zwillinge in L. A. großgezogen hatten und ein Leben führten, dessen Abende von gemeinsamen Zirkusbesuchen bestimmt wurden, während die ungezählten Nächte ihren ineinander verschlungenen Körpern gehörten …
Eine Hand, die auf das Dach des alten Volvo schlug, riss Lara aus ihrem Tagtraum.
»Und? Wie geht’s der alten Rostlaube?«
Lara drehte sich um und sah Gina, die den Kopf durchs Beifahrerfenster gestreckt hatte. Ihre Töchter standen neben ihr.
»Oh, hi, Gina.« Lara stieß vor Erleichterung die Luft aus. »Ethel, Gladys. Diese Ampel – ich glaube es einfach nicht.«
»Wem sagst du das!«, pflichtete Gina ihr bei. »Tom hat neulich ungefähr drei Jahre lang gewartet. Hey, schick – die Tasche passt zum Wagen.«
Lara senkte den Blick. Es stimmte, ihre Handtasche, die sie neben sich auf den Beifahrersitz geworfen hatte, hatte exakt dieselbe Farbe wie das Auto.
»Bis auf den Rost!«, fügte Gina hinzu.
Lara lächelte. Normalerweise liebte sie Ginas Fröhlichkeit, aber heute war sie nicht in der Stimmung für Geplauder. Außerdem fuhr sie, sofern sie ihr Alibi von einem Besuch in der Stadt aufrechterhalten wollte, genau in die falsche Richtung. Ihr Doppelleben hatte noch gar nicht richtig angefangen, und schon leistete sie sich den ersten Patzer.
»Und, meine Dame, wohin des Wegs?«, erkundigte sich Gina mit erhobener Augenbraue.
»Ach, bloß, also …« Doch dann wurde Lara von der Ampelschaltung gerettet.
»Jetzt oder nie!«, rief Gina und haute noch einmal auf den Wagen, als wäre der ein träges Pferd.
Lara löste die Handbremse und fuhr ein wenig schneller los als mit der »Schrittgeschwindigkeit«, die das Schild an der Baustelle vorschrieb.
Als sie die Kreuzung erreicht hatte, an der die Straße zu Stephen von der Main Street abzweigte, warf sie einen Blick in den
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