Hautnah
Sitz und schaute sich im Zuschauerraum um. Die Reihen nagelneuer roter Plüschsitze waren hochgeklappt und zeigten ihre blanken Unterseiten. Dann nahm sie eine Bewegung wahr, und sie sah die schmale Galerie ganz hinten im Saal. Von verschnörkelten Eisenpfeilern gestützt, verlief sie über die gesamte Breite des Raums. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht viel erkennen, aber als sie nach oben blickte, sah sie die Silhouette eines großen Mannes, der durch einen sich hinter ihm befindenden Scheinwerfer angestrahlt wurde. Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, hatte aber das Gefühl, dass sein Blick auf ihr ruhte. Kaum hatte sie ihn bemerkt, als er zurück in den Schatten trat und verschwand.
»Hast du das gesehen?«, fragte sie Marcus, der endlich aufgestanden war.
»Was?«
»Da war ein Mann …« Sie zeigte auf die Galerie.
Marcus folgte ihrem Blick. »Wahrscheinlich der Beleuchter.«
»Wahrscheinlich.«
»Oder deine Fantasie geht mit dir durch. Wäre ja nicht das erste Mal. Also, wer will ein Stück Kuchen?«, fragte Marcus.
Auf dem Weg nach draußen zum Kuchenstand schaute Lara erneut zur Galerie hoch, aber es war niemand dort. Vielleicht hatte Marcus recht. Selbst mit Kontaktlinsen war die Sehkraft ihrer computergeschädigten Augen bei schwachem Licht nicht die beste. Mehr als einmal war es schon vorgekommen, dass sie in einer schummrigen Theaterkneipe Wildfremde gegrüßt hatte.
Draußen auf dem Rasen hatte der erste Akt eines prächtigen goldenen Sonnenuntergangs begonnen, und die stille Luft war erfüllt von Insekten, die sich unter den Zuschauern nach einem blutigen Imbiss umtaten.
»Sieh mal, wie schwarz die Bäume sind.« Bella zeigte auf die Umrisse der Ahornbäume auf dem Hügel hinter dem Ort. »Da oben wäre ich jetzt nicht gerne.«
»Bllllairrrr Witch.« Olly tauchte hinter ihr auf.
»Verpiss dich!« Bella stieß ihn von sich.
»Es ist wirklich eine andere Welt«, sagte Lara, die Jack mit einem Stück Kuchen fütterte und zu verhindern versuchte, dass er seine chinesische Jacke vollkleckerte. Die »Kirsch«füllung war zu rot, als dass man darauf hoffen durfte, etwaige Flecken würden sich wieder entfernen lassen.
»Also, Familie Wayland, wie hat euch unsere kleine Show gefallen?« James kam auf sie zugetrippelt und legte die Arme um Bella und Olly. Marcus warf Olly einen diskreten, aber strengen Blick zu.
»Super«, antwortete Olly, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Wunderschöne Kostüme«, fand Bella. »Stimmt’s, Mum?«
»Wer hat sie genäht?«, wollte Lara wissen.
»Betty. Betty ist ein Genie.« James strahlte, bester Stimmung durch das verschwenderische Lob, mit dem die übrigen Zuschauer ihn überhäuft hatten. »Sie macht alles: das Skript, die musikalische Leitung, die Kostüme, das Bühnenbild.«
»Und warum tritt sie nicht mehr auf?«, wollte Olly wissen, und Lara wusste nicht, ob er bloß höflich war oder im Gegenteil besonders gerissen und unverschämt.
»Lampenfieber«, flüsterte James. »Es gab da einen kleinen Zusammenbruch. Aber wir sprechen nicht darüber.«
»Wie schade«, sagte Lara und dachte einen Moment lang an ihr eigenes verschenktes Potenzial – von der Starschauspielerin des zwölften Jahrgangs zur Mutter und Hausfrau in nur etwas mehr als einem Jahr. Was hätte aus ihr werden können, wenn ihr das Leben nicht dazwischengekommen wäre?
»Wie auch immer, avanti !« James klatschte in die Hände. »Meine Damen und Herren, bitte essen Sie jetzt Ihren Kuchen auf. Die Vorstellung geht in fünf Minuten weiter. Ich möchte nicht, dass auch nur ein Krümel übrigbleibt.«
Leises Gelächter schwappte durch die Menge, dann machten sich alle über die Reste auf ihren Tellern her. Eine rotgesichtige Alyssa tauchte neben James auf.
»Äh, James, könnte ich dich bitte kurz sprechen?«, kiekste sie. »Im Foyer.« Sie drehte sich um und dackelte zurück ins Gebäude.
»Ich komme schon, Alyssa, Liebchen. Huch. Sieht so aus, als bekäme ich Schelte von der Dame des Hauses«, wisperte James Lara und Marcus zu. »Sie mag meine spontanen Ansagen nicht besonders. Findet, das sei ihre Aufgabe. Gott, sie ist so streng .«
»Der ist aber gut drauf heute Abend«, meinte Olly, als sie ihn über den Rasen davoneilen sahen.
»Den Leuten scheint es jedenfalls zu gefallen«, sagte Marcus und stürzte den letzten Schluck aus seiner Limonadendose hinunter. »Gott, das Zeug ist ja ekelhaft. Root Beer – ich möchte mal wissen, aus was für ›Wurzeln‹ sie das
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