Hautnah
hatte.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer und knöpfte sich das kühle Oberhemd zu. Natürlich war es ihr zu groß, allerdings nur ein bisschen. Stephen war hochgewachsen, aber schlank, und sie hatte, anders als zu den wenigen Gelegenheiten, wenn sie etwas von Marcus getragen hatte, nicht das Gefühl, in seinen Kleidern zu ertrinken. Sie konnte sich noch an einen Vorfall in Cambridge erinnern, als sie betrunken aus einem Kahn gefallen war. Sie hatte ein weißes Kleid angehabt, das durch die Nässe durchsichtig geworden war. Nach etwas gutem Zureden hatte Marcus sein Hemd ausgezogen, damit sie ihre Blöße bedecken konnte, und sich zum Dank dafür einen schlimmen Sonnenbrand geholt. In dem Hemd hatte sie sich damals besonders verloren gefühlt.
Sie betrachtete sich in dem mannshohen Spiegel an Stephens Schlafzimmerwand. Er hatte recht gehabt, die Farbe passte perfekt zu ihrer olivgrünen Leinenhose. Sie krempelte die Ärmel hoch und öffnete am Hals noch einen weiteren Knopf.
Sie nahm ihr schmutziges Oberteil und wandte sich zur Schlafzimmertür, doch etwas hielt sie zurück. Ohne es zu wollen, setzte sie sich auf die Seite des Betts, von der sie wusste, dass er dort schlief, und zog die Schublade seines Nachttischchens auf.
Eine Sekunde lang hörte ihr Herz auf zu schlagen. Ganz oben in der Schublade lag ein Foto. Den Bob noch im ursprünglichen, ungefärbten Schwarz, die Haut frei von Falten, den schlanken Arm um einen strahlenden Stephen gelegt, lächelte ihr ihr neunzehnjähriges Selbst entgegen. Sie nahm das Foto in die Hand und betrachtete es genauer. Sie trug das rote Crêpekleid mit den Blumen und den kleinen Puffärmeln, das sie in jenem Sommer so oft angehabt hatte. Der Haltung ihres anderen Arms nach zu urteilen, musste sie das Foto von sich und ihrem Liebhaber selbst aufgenommen haben. Hinter ihnen zeichneten die wogenden Wipfel eines uralten Waldes eine Trennlinie zwischen blauem Himmel und grüner Wiese.
Sie erinnerte sich an den Tag, als wäre es gestern gewesen.
Marcus war schon frühmorgens zur Probe gegangen und musste gleich im Anschluss in der Abendvorstellung von Heinrich IV., erster Teil auftreten. Da Stephen im Heinrich nicht mitspielte, hatte er den Abend frei, und eine Probe war für ihn auch nicht angesetzt. Also hatten sie die Gelegenheit genutzt, sich ein Auto gemietet und waren nach Süden gefahren, zu den sanft gewellten, mit Gras bewachsenen Hügeln von Dover’s Hill in der Nähe von Chipping Camden. Dort aßen sie Erdbeeren und tranken Sekt, bevor sie sich davonstahlen, um sich zwischen den Eichen, die seit normannischer Zeit über das Land wachten, ein Nest zu bauen. Dort, auf einem von eisenzeitlichem Erzabbau zerklüfteten Hügel mitten in Gloucestershire, liebten sie sich zum ersten Mal richtig.
Danach lagen sie eng umschlungen und schmiedeten Pläne für ihre Zukunft. Lara würde Marcus sagen, dass es vorbei war; sie würden Stratford verlassen und nach London ziehen. Sie würde die Schauspielschule besuchen, während Stephen arbeiten ging und Geld verdiente. Danach würden sie beide Schauspieler werden und in einem Haus in Camden wohnen, das eine separate Eingangstür und einen langen persischen Läufer im Flur hatte.
Es war aus mehreren Gründen ein ganz besonderer Tag, aber vor allem, weil sie sich zum ersten Mal seit Beginn ihrer kurzen und intensiven Affäre nicht verstellen mussten – zumindest nicht, nachdem sie die Stadtgrenzen von Stratford-upon-Avon hinter sich gelassen hatten. Obwohl Liebschaften im inzestuösen Theatermilieu an der Tagesordnung waren, fanden sie meistens zwischen Schauspielern statt, deren Partner in anderen Städten lebten. Für Lara, eine Kellnerin, die zur Frau eines Schauspielers der Royal Shakespeare Company aufgestiegen war, wäre es undenkbar gewesen, sich in aller Öffentlichkeit mit einem anderen Mann zu zeigen. Folglich hatte sie ihre Liaison mit Stephen geheim halten müssen.
Es war wahnsinnig – darüber war sie sich schon damals im Klaren gewesen –, aber es hatte so kommen müssen. Wäre sie älter gewesen und ihre Ehe stabiler, hätte sie nicht kurz zuvor erfahren, dass Marcus sie nur als Trostpflaster geheiratet hatte – dann wäre sie vielleicht eher in der Lage gewesen, Stephen zu widerstehen. Aber von dem Moment an, als er damals in die Bar gekommen war und sie angesehen hatte, hatte sie gewusst, dass er für sie bestimmt war.
Wenn sie sich doch nur ein Jahr früher getroffen hätten. Wenn sie doch nur nicht so
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