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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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beharrte sie.
    »Ich bin fort, Lara«, sagte er. Er hielt ihr die Handflächen entgegen und blickte zu Boden. Dann beugte er sich zu ihr und küsste sie ein allerletztes Mal, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Sie blieb allein zurück, in mehr als einem Wortsinn aufs Kreuz gelegt und mit dem Gefühl, als hätte man ihr ohne Narkose ein Glied abgetrennt.
    Wenn er sein Versprechen, dass sie ihn nie wiedersehen würde, doch nur gehalten hätte. Aber nachdem sein hervorragender Agent ihn unter dem Vorwand »psychischer Gründe« aus seinem Vertrag mit der Royal Shakespeare Company erlöst hatte, besorgte er ihm eine Rolle in einem verschrobenen No-Budget-Thriller mit Schauplatz auf den Shetlandinseln. Der Film wurde der Überraschungserfolg des Jahres, gewann einen wichtigen Preis beim Sundance Festival und markierte in Europa die Geburtsstunde des Phänomens Stephen Molloy, so dass sie ihn fortan ständig und überall sehen musste.
    Doch die Zeit verging, und eine gewisse Heilung setzte ein. Sie kam ein wenig zur Vernunft. Die Zwillinge, die sie eine ganz neue Form der Liebe gelehrt hatten, hielten sie auf Trab. Sie kam zu dem Schluss, dass man manchmal gewinnt und manchmal eben verliert. Sie kämpfte mit den widerstreitenden Gefühlen von Verzückung und Frust, die sie abwechselnd für ihre Kinder empfand, und war in der Regel zu beschäftigt, um seine in aller Öffentlichkeit stattfindende Karriere zu verfolgen. Und es gelang ihr, sich davon zu überzeugen, dass Stephen mit seinem aufregenden und glanzvollen Leben sie ohnehin längst vergessen hatte.
    Doch durch sein Geständnis auf der Party, und nun durch dieses Foto, war ihr klargeworden, dass die Trennung damals für ihn schmerzhafter gewesen sein musste, als sie geglaubt hatte. Sie fragte sich, ob er das Foto wohl seit ihrem Abschied in Stratford bei sich trug. Oder hatte er es bloß aus einer längst vergessenen Kiste irgendwo ganz hinten auf dem Dachboden hervorgekramt, nachdem ihm zu Ohren gekommen war, dass sie sich zufällig in derselben Stadt aufhielt?
    Sie betrachtete das Foto ihres jüngeren Ichs und überlegte, was sie ihm sagen würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte. War es so schrecklich gewesen, bei Marcus zu bleiben? Die Gefühle für ihren Ehemann waren mal stärker, mal schwächer, aber war das nicht ganz normal? Manchmal glaubte sie aufrichtig, dass sie ihn liebte. Und ein anderes Mal erwischte sie sich dabei, wie sie in Tagträumen ausgeklügelte Fluchtszenarien entwarf, deren Detailliertheit ihr Angst machte. Sie würde ihr Konto leer räumen und untertauchen. Sich neu erfinden und irgendwo einen Job als Verkäuferin annehmen, um die Miete für ein kleines Apartment zu bezahlen. Oder sie würde eine Affäre mit einem x-beliebigen Mann anfangen und es so einrichten, dass Marcus sie erwischte. Auf diese Weise würde sie ihm den Schwarzen Peter zuschieben, sich von ihr zu trennen. Gelegentlich ertappte sie sich sogar dabei, wie sie sich im Bus auf dem Weg zur Arbeit nach geeigneten Kandidaten umsah. Der da würde gehen, dachte sie dann. Manchmal fragte sie sich, wie es wäre, wenn Marcus überraschend stürbe – an einem Herzinfarkt vielleicht oder durch ein vom Himmel stürzendes Flugzeug. Würde sie um ihn trauern? Wäre sie erleichtert?
    Sie zog Stephens Nachttischschublade noch ein Stückchen weiter auf und wollte das Foto zurücklegen. Doch ihre Hand erstarrte mitten in der Bewegung, als sie sah, was unter einem Stapel gebügelter Leinentaschentücher hervorschaute: der Griff eines Revolvers.
    Lara schob die Taschentücher zur Seite und beugte sich über die Waffe, um sie zu betrachten. Es war die Erste, die sie je aus der Nähe sah. Warum hatte Stephen eine Waffe, noch dazu neben seinem Bett? Vielleicht war das nichts Ungewöhnliches in Amerika, vor allem bei Leuten, die so abgelegen wohnten, dass kein Nachbar ihre Schreie hören konnte, oder bei denen das nächste Polizeirevier so weit entfernt war, dass ein Eindringling, so er darauf aus war, ihnen ein Leid anzutun, bereits kurzen Prozess gemacht hätte, lange bevor die Polizei eintraf.
    Sie berührte den Revolver mit der Fingerspitze und erschauerte, während sie gleichzeitig das Bild aus ihrem Kopf zu verdrängen versuchte, wie Marcus sich zitternd vor dem Lauf duckte, wie er beim Krachen des Schusses zusammenfuhr …
    Aber dies hier war das beschauliche Trout Island, wo niemand seine Haustür abschloss, nicht die Innenstadt von Detroit oder Chicago. Bestimmt brauchte man

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