Havanna für zwei
nicht gelebt«, fuhr Sophie unbeirrt fort. »Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Erst um sechs ist er kurz eingenickt, und um sieben sind wir aufgestanden.«
»Wie bist du hierher zurückgekommen?«
»Er hat mich hinten auf seinem Motorrad mitgenommen.«
Emma trank noch einen Schluck Tee und schloss die Augen.
»Du solltest wirklich langsam in die Zukunft blicken, Em.« Sophie schüttelte verständnislos den Kopf.
Emma hasste die herablassende Art, mit der sie das sagte. Wie konnte sie sich irgendeine Vorstellung von dem Kummer und dem Schmerz machen, die sie jede Sekunde des Tages mit sich herumtrug?
»Sogar Dad sieht das so«, fuhr Sophie unbeirrt fort.
Das war ein Schritt zu weit. Emma konnte es nicht ertragen, wie Sophie ihren Vater um den kleinen Finger wickelte. Der Gedanke, dass sie über ihre Reaktion auf den Tod ihres Mannes gesprochen hatten, war zu viel für sie.
»Ich mache einen Spaziergang.«
Emma stand abrupt auf und ließ ihre Schwester sitzen, die hungrig ihre Pfannkuchen mit Ahornsirup verschlang. Sie lief zielstrebig zum Strandeingang und atmete beim Anblick des stahlblauen Meeres erleichtert auf. Während sie durch den fast weißen Sand lief, fühlte sie sich wieder sicher – sicher, um so viel über Paul, ihren Vater und ihre Familie nachzudenken, wie sie wollte.
Ihr Vater war schon immer hart zu ihr gewesen. Er stellte hohe Ansprüche an sie und hielt sie für die Intellektuelle der Familie. Schließlich war sie die Tochter, die Psychologie und Englische Literatur studierte; die anderen nahmen künstlerische Fächer, was er völlig in Ordnung fand, weil Emma ihnen den Weg geebnet hatte, worum ihre Schwestern sie wiederum beneideten. Louise kompensierte das, indem sie zu jeder Gelegenheit frech und ungezogen war, und Sophie klammerte sich an ihre Rolle als Nesthäkchen, um sich seiner Aufmerksamkeit und seines Mitgefühls zu versichern – und es funktionierte.
Als Paul starb, hatte Emma auf mehr Unterstützung von ihren Eltern gehofft, doch sie verhielten sich genauso wie damals, als Misty gestorben war. Misty war das einzige Haustier der Mädchen gewesen, ein braun-weißer Cockerspaniel, den die ganze Familie vergötterte. Er war das sechste Familienmitglied der Owens; sie hatten ihn zu Weihnachten bekommen, als Emma acht wurde und ihre Freude über das neue kleine Schwesterchen nachgelassen hatte.
Larry Owens gefiel es, dass Misty ein Rüde war, weil er sich dadurch allein unter Frauen nicht mehr so unterlegen fühlte. Emma erinnerte sich, wie er während der BBC-Verfilmung von Stolz und Vorurteil einmal gesagt hatte, dass er genau wüsste, wie Mr Bennet sich fühlte, und dass er selbst in gewisser Weise eine moderne Version dieser Figur sei.
Der Strand war heute fast leer. Da sie sich danach sehnte, mit jemandem zu sprechen, begab sie sich zurück zur Hotelstrandbar, wo hinter der Theke Dehannys auf sie wartete.
»Buenos días, Emma!«
»Buenos días, Dehannys! Agua sin gas, por favor.«
»Ist es heiß heute?«
Emma nickte. »Pues la playa está linda.«
Dehannys stellte ihr ein Glas Wasser auf die Theke.
»Dein Bruder und meine Schwester waren gestern bis spät in die Nacht zusammen weg!«, sagte Emma.
Dehannys legte den Kopf schief, weil sie sich nicht sicher war, die Andeutung korrekt verstanden zu haben. »José? Con Sophie?«
»Sí.« An Dehannys’ Reaktion merkte Emma, dass das Neuigkeiten waren, die sie über ihren Bruder nicht gerne hörte.
Dehannys nahm ein Glas von der Theke und polierte es heftig mit einem Geschirrtuch.
»Ist alles in Ordnung, Dehannys?«
Dehannys schüttelte den Kopf. »Mein Bruder ist ein böser Junge. Er soll Gabriella heiraten, aber er ist nicht gut zu ihr.«
»Wer ist Gabriella?«
»Sie ist meine Cousine und ein sehr liebes Mädchen.«
»Wann wollen sie denn heiraten?«
»Dos meses.«
»Im Mai?«
» Sí , aber …« Dehannys schüttelte ratlos den Kopf. Jede Erklärung war überflüssig.
Emma fühlte sich schrecklich, dass sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. »Sieh mal, Dehannys, wir reisen morgen nach Havanna ab, und Sophie sieht ihn nie wieder.«
Dehannys unterbrach ihre Arbeit und stützte sich auf die Theke. »Aber morgen kommen neue Frauen – Touristinnen –, und er nimmt sie mit in sein Zimmer im Hotel Tryp.« Sie seufzte. »Aber ich werde traurig sein, wenn du gehst, amiga – ahora hablas mucho español !«
» Gracias – eres una profesora muy buena . Schreibst du mir mal, wenn ich wieder zu Hause
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