Havelgeister (German Edition)
weitere Anweisungen zu holen, legte Manzetti ihm eine Hand über den Mund. »Jetzt nicht, Paul. Wir haben wirklich keine Zeit mehr und müssen dringend mit Stefan reden.«
Paul nickte, für seine Verhältnisse recht einsichtig, hob lediglich die Schultern zwischen die Ohren und verschränkte dann die Arme über der Wölbung seines Bauches.
»Was habt ihr denn?«, fragte der Mostereibesitzer und gab erst Bremer und dann Manzetti die Hand.
»Kerne«, antwortete Manzetti. »Wir ermitteln in einem Mordfall und möchten dich bitten, uns einige Fragen zu beantworten.«
»Es geht um den Mord an einem Jungen, oder?« Stefan ordnete seinen Pferdeschwanz.
»Ja, woher wissen Sie davon?«, fragte Bremer verblüfft.
»Die Polizei. Man hat gerade angerufen und schickt jemanden, der mir Obstkerne bringt. Ich soll sie bestimmen.«
»Und was sind das hier für welche?« Manzetti sah zu, wie Bremer seine Tasche auf den schmalen Verkaufstresen leerte. Der Mostereibesitzer brauchte nicht lange. Sein geübter Blick identifizierte die Kerne im Nu.
»Das sind Quittensamen, was ungewöhnlich ist.«
»Warum ungewöhnlich?«
»Weil die Quittenernte erst im Spätherbst stattfindet, ungefähr im Oktober und November.«
»Vielleicht stammen die hier schon aus dem letzten Jahr?«
»Glaube ich nicht«, beschied Stefan. »Die sehen sehr frisch aus.«
Manzetti trat einen Schritt zurück und sah sich im Laden um. »Was weißt du alles über Quitten?« Er deutete mit dem Kinn auf ein Plakat, das neben dem Flaschenregal an der Wand hing. Darauf war eine reife, knallgelbe Quitte zu sehen.
»Was interessiert dich denn?«
»Eigentlich alles«, sagte Manzetti und konkretisierte noch: »Vielleicht auch etwas Mystisches, wenn es das denn gibt.«
Stefan stellte vier Mostgläser auf den Tresen und nahm eine Literflasche aus dem Regal. »Das ist Apfel-Quittensaft.«
Er goss die Gläser halbvoll und hielt sich seines unter die Nase. Mit geschlossenen Augen atmete er tief ein. »Hundert Prozent Direktsaft ohne Zusatz von Zucker oder Wasser. Wir verwenden ausschließlich ungespritzte Früchte von den Streuobstwiesen und aus den Gärten in der näheren Umgebung.«
Bremer war der erste, der einen Schluck trank und anschließend die Lippen spitzte. »Sehr lecker.«
Stefan trank auch und drehte sich dann zum Plakat. »Ja, das ist tatsächlich eine Quitte. Du hast sie richtig erkannt. Sie ist ein Rosengewächs, das ursprünglich aus dem östlichen Kaukasus stammt. Ihren Namen verdankt sie übrigens der griechischen Stadt Kydonia, heute Chania, die im Nordwesten der Insel Kreta liegt.«
»Aha.«
»Ja, und dieses alte Gewächs, von dem die ersten kultivierten Sorten bereits seit zirka viertausend Jahren bekannt sind, ist auch der Namensgeber für die Marmelade. Quitte heißt nämlich im Portugiesischen marmelo .«
Stefan legte sich drei schwarze Kerne auf den Handteller und betrachtete sie von allen Seiten. Schließlich nahm er einen einzelnen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sie haben einen hohen Anteil an Gerbsäure, weshalb sie bitter schmecken, wenn man darauf beißt.« Dann führte er den Quittenkern zum Mund.
»Machen Sie das lieber nicht«, warnte Bremer und fiel Stefan in den Arm. »Sie stammen aus dem Körper der Leiche.«
»Okay«, sagte Stefan und legte den Kern zurück zu den anderen. »Wissen Sie schon, warum man sie ihm gegeben hat?«, fragte er Bremer.
»Nein«, räumte Manzetti ein. »Ich hatte gehofft, dass du uns da vielleicht weiterhelfen könntest.«
»Ich bin kein Fachmann, aber unter Umständen …« Er wandte sich um und verschwand hinter dem bunten Vorhang, durch den er sogleich mit einem dicken Buch wiederkam. Auf dessen Umschlagseite leuchtete ein herrlich roter Apfel. »Einheimische Obstsorten«, stellte Stefan den Wälzer vor.
Er blätterte bis knapp über die Mitte des Buches und fuhr dann mit dem Zeigefinger nach unten. »Hier steht etwas. Die Frucht der Quitte enthält Vitamin C, Kalium, Natrium, Zink, Eisen und Fluor. In Deutschland wachsende Sorten sind für den Verzehr nicht geeignet, da sie hart und durch Gerbstoffe bitter sind. Die Samen …«, er nahm den Kopf hoch und sah über den Brillenrand zu Bremer, der es ihm offenbar angetan hatte, »… die Samen enthalten Schleimstoffe, giftige cyanogene Glycoside und fettes Öl.«
»Giftige was?«, fragte Manzetti und schlug seinen Notizblock auf.
»Giftige cyanogene Glycoside«, wiederholte Bremer, »sind weit verbreitete Pflanzengifte. Sie bestehen aus einer
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