Havelgeister (German Edition)
Verbindung von Alkohol und Zucker. Bei der enzymatischen Spaltung entsteht daraus unter anderem der giftige Cyanwasserstoff, auch Blausäure genannt.«
Stefan füllte noch einmal die Gläser mit Apfel-Quittensaft. »Das könnte doch schon eine Erklärung sein«, sagte er und sah von Bremer zu Paul.
Der deutete mit der rechten Hand auf die gefüllten Gläser. »Ihr braucht keine Angst zu haben. Blausäure ist in vielen Früchten, und wenn der Quittensaft wirklich so giftig ist, wie dein Freund es gerade beschrieben hat, dann wäre schon ganz Ketzür ausgelöscht.«
»Weiter im Text«, schlug Stefan vor und suchte mit dem Finger die Stelle in seinem Nachschlagewerk, die er zuletzt vorgelesen hatte. »Der griechische Arzt Hippokrates empfahl Quittenzubereitungen gegen Durchfall und Fieber. Und seit jeher gelten Quitten als Symbol für die Liebe, für Glück, Fruchtbarkeit, Klugheit, Schönheit, Beständigkeit und Unvergänglichkeit.«
»Und …?«, fragte Manzetti, da er mit dem Schreiben nicht so schnell nachgekommen war.
»Beständigkeit und Unvergänglichkeit.«
»Gut«, schnaufte er und schaute fragend in die Runde. »Und auf welches dieser Symbole wollte unser Mörder nun verweisen?«
»Keines von denen«, kam es plötzlich von Paul, der sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Hatte der Junge auch Quittensamen in der Hosentasche oder nur im Mund?«
Bremer und Manzetti sahen sich an, als hätte gerade jemand die Lottozahlen der nächsten Woche vorausgesagt.
»Was meinst du damit?«, fragte Manzetti noch immer leicht verwirrt.
»Na, ob er auch Quittensamen in der Hosentasche hatte oder ob man ihm nur welche in den Mund gestreut hat. Was ist daran nicht zu verstehen?«
»Woher weißt du, dass wir sie aus seinem Mund geholt haben? Das haben wir mit keiner Silbe erwähnt«, brach der Polizist aus Manzetti heraus, und er reihte Paul gleich mal in die Liste möglicher Verdächtiger ein.
»Willst du mich jetzt vielleicht verhaften, oder was soll dein Misstrauen, mein Junge? Setz dich lieber auf deinen Hintern und hör mir zu.«
Was jetzt folgen würde, ging es Manzetti durch den Kopf, war mit Sicherheit eine von den Geschichten, die eigentlich nur während eines Dorffestes zu ertragen waren. Der Binnenschiffer Paul erzählte zu gern von seinen Abenteuern auf den fernen Weltmeeren, bei Völkern, denen nicht einmal Alexander von Humboldt begegnet war. Trotzdem nahmen sie alle drei auf leeren Obstkisten Platz und sahen aus wie kleine Kinder, die Großvaters Märchen lauschen. Dieses Märchen aber würde bestimmt abenteuerlich ausfallen, Szene um Szene mit festem Seegarn umwickelt.
»Als blutjunger Schiffsjunge«, begann Paul mit einem unverkennbaren Leuchten in den Augen, »heuerte ich auf einem alten Seelenverkäufer an, der mit reichlich Kohle in den Orient unterwegs war.«
»Paul«, rief Manzetti ihm zu, »die brauchen da keine Kohle. Es ist immer warm und Stahlwerke gibt es auch keine.«
Für seinen Einwand knuffte Bremer ihm in die Seite und Paul redete kopfschüttelnd weiter.
»Wir dampften unter Volllast durch die tobende Biskaya, dass die Brecher nur so über unser Deck hinwegfegten, passierten den Affenfelsen von Gibraltar und hielten direkt Kurs auf Sizilien. Den kleinen Abstecher hatte der Kapitän eigenwillig eingelegt, denn er hatte eine hübsche Braut in Messina, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Wir vertäuten also unseren Dampfer am Pier, worauf alle Landgang bis zum Morgengrauen bekamen. Bis auf mich. Als jüngster Spross hatte ich unser Schiff zu bewachen und niemanden an Bord zu lassen. Schon gar keine Frauen, hatte der Kapitän gesagt, denn Frauen an Bord holen den Klabautermann. Und was soll ich euch sagen …« Paul beugte sich zu seinen Zuhörern, bis er fast das Gleichgewicht verlor, »genau um Mitternacht – ich weiß das so genau, weil die Turmuhr an der Kirche gerade zwölf geschlagen hatte – kam eine alte Frau auf den Pier, auf der Schulter eine Katze.«
Als Manzetti tief Luft holte und die Augen verdrehte, legte Bremer einen Zeigefinger über seine Lippen und zischte ihm ein deutliches Pssst zu. Paul bedankte sich beim Doktor mit einem knappen Nicken.
»Und ob ihr es glaubt oder nicht, die Alte machte sich daran, unser Schiff zu entern. Wagemutig stellte ich mich also den Mächten der Finsternis in den Weg, obwohl ich in diesem Augenblick nicht wusste, wie lange mein junges Leben noch andauern würde. Da ließ sie die Katze zu Boden und fragte mich, ob auf
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