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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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eingebüßt, als er ihm aus der Hand geglitten und auf den Holzboden gefallen war. Mit seinen empfindsamen Fingern konnte er ihn, gut einen Meter von seinem Sitzplatz entfernt, ertasten.
    Er wollte das Bild unbedingt fertigstellen. Den Weißkopfseeadler auf einem Baum sitzend. Ihr Wappentier, das Lara mit in die Crew gebracht hatte. Wir brauchen ein Symbol, hatte die kluge Lara gesagt. Ein Symbol verbindet, schon so lange es die Menschen gibt. Beim Militär hatten manche Helden sogar ihr Leben dafür geopfert – sie nannten es Truppenfahne oder Standarte, hatte Lara ihm erklärt. Und Nepo hatte nichts dagegen.
    Seither gab der Weißkopfseeadler Kevin Kraft. Auch jetzt, da sein Magen knurrte, als ginge es darum, das Gebrüll eines Bauchredners nachzuahmen. Die Sachen, die Lara ihm gestern gebracht hatte, waren längst verdaut und bei Einbruch der Nacht unweit der Mühle wieder ausgeschieden.
    Und nun? Sie wollte Erkundigungen einholen und mit neuen Lebensmitteln wiederkommen. Bring mir Pizza mit, hatte er sich gewünscht, und so wie es geklungen hatte, als sie die steile Stiege hinuntergeklettert war, sollte das kein Problem darstellen. Aber wo blieb sie nur? Ob ihr Vater sie abgepasst und mit Hausarrest belegt hatte? Oder hatte er sie gar geschlagen, bis sie nicht mehr anders konnte, als ihn zu verraten?
    Kevin drückte die Wange an das modrig riechende Holz und lugte durch das Astloch nach draußen. Nichts. Die Wiesen, die vom Hügel, auf dem die Mühle stand, sanft zum Dorf hin abfielen, waren menschenleer. Keine alten Frauen, die mit ihren Hunden noch eine Runde zum See drehten, keine Angler, die auf dem Fahrrad an die Stelle fuhren, wo sie gestern den Fisch angefüttert hatten, und keine Lara, die mit Rucksack und Taschenlampe zu ihm unterwegs war.
    Doch dann machte er zwei Gestalten aus, die auf dem asphaltierten Radweg in Richtung Lünow fuhren. Eine der beiden konnte Lara sein. Aber wieso war sie nicht allein, wer war der Mann neben ihr? Etwa ihr Vater?
    Kevin lief es eiskalt den Rücken runter. Diesem Bullen durfte er nicht in die Hände fallen. Er war berüchtigt in der Szene, auch weil er hin und wieder zu Methoden griff, die an Züchtigung erinnerten. Einige Jungs aus anderen Crews hatten berichtet, dass Laras Vater, bevor er für ein Jahr in die Toskana gegangen war, jedem Sprayer angedroht habe, ihm die Finger einzeln zu brechen, so er ihn greifen würde. Kevin ballte unwillkürlich seine zehn Finger zu Fäusten. Soll er nur kommen.
    An dem Feldweg, der herauf zur Mühle führt, blieben die beiden Gestalten stehen. Wirklich, es war Lara. Aber der Mann, der sie bis hierher begleitet hatte, stieg wieder auf sein Rad und radelte weiter. Trotzdem bekam Kevin es mit der Angst. Er würde noch heute sein Versteck verlassen und woanders Unterschlupf suchen. Gleich, wenn Lara wieder losgefahren war.
    Er stand auf und zog dasHolzscheit zurück, das er von innen als Verriegelung benutzte. Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür auf. »Bist du das?«, fragte er in das Halbdunkel.
    »Wer denn sonst?«, antwortete Lara.
    Kevin konnte spüren, wie sie ihren Mund zu einem Schmunzeln verzog. Warum stellst du auch immer so blöde Fragen, schalt er sich selbst.
    »Wen hast du denn erwartet, mein Schatz? Ich konnte nur nicht eher kommen, weil ich erst noch meine Eltern belauschen musste.«
    Kevin wollte möglichst schnell seinen kleinen Lapsus ausbügeln, und mimte den Bestimmer. »Komm erst mal hoch. Wer weiß, wer uns sonst noch beobachtet.«
    »Niemand«, sagte Lara, als sie zu ihm in die Luke krabbelte. »Was glaubst du denn, wie viele Ketzürer hier nachts durch die Gegend streifen. Die Leute sitzen abends vor dem Fernseher oder auf dem Hof und trinken Bier mit den Nachbarn.«
    Bier, dachte Kevin. Das würde er jetzt auch gerne trinken. »Und der Typ, mit dem du auf dem Radweg gefahren bist?«
    »Ach der. Das war ein Kollege meines Vaters. Er war angeln und fährt jetzt nach Hause.«
    »Und was hast du ihm erzählt?«, fragte Kevin und rutschte wieder an das Astloch heran. Waren sie gerade dabei, sein Versteck zu umzingeln, und benutzten Lara nur, um ihn in Sicherheit zu wiegen? Aber da draußen tat sich noch immer nichts. Nur ein paar Schwäne waren mittlerweile in der unweit gelegenen Kute gelandet und schwammen mit gebogenen Hälsen nebeneinander her.
    Lara stellte den Rucksack auf den Boden. »Nichts«, sagte sie. »Was soll ich ihm denn erzählt haben?«
    Kevin glitt wieder zu ihr hinüber. »Du hast doch

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