Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
Vom Netzwerk:
in sich hinein: alles normal. Hungrig ging er direkt auf das Buffet zu und bediente sich. Mit einem vollen Teller in der Hand sah er sich um.
    Premierminister Thaci bildete den Mittelpunkt des Geschehens. Ein gutes Dutzend Reporter sowie gleich viele Herren in dunklen Anzügen umringten den Politiker. Wegmann ordnete die Anzugträger der oberen Ebene von Thacis Ministerien zu. Auch ein paar Personenschützer standen gelangweilt neben dem Eingang. Sie waren leicht auszumachen. Man erkannte sie weltweit an ihrem Knopf im Ohr.
    Wegmann kaute das letzte Stück Cevapcici runter, stellte den Teller ab und gesellte sich zur Schar seiner Kollegen. Die eine Hälfte waren Deutsche, die andere kam aus dem Kosovo. Er war sich sicher, dass alle das Gleiche schreiben würden und Attribute wie großartig, zukunftsweisend und bahnbrechend dabei die Oberhand behielten. Schließlich wählten Politiker bei solchen Anlässen Journalisten nach ihrer Bereitschaft zu derartigem Vokabular aus. Das war in Brandenburg nicht anders, als in Priština.
    Erst, als der Name Böttger fiel, horchte Wegmann auf. Ein schon etwas älterer Kollege brachte ihn ins Spiel. Nach seinem Akkreditierungsschildchen hieß er Wollschläger und kam von der Berliner Morgenpost.
    »Wie lange kennen sich Thaci und Böttger eigentlich schon?«, lautete die Frage des Berliner Reporters.
    »Seit 1999«, antwortete ein Mann, der ebenso wie Wegmann kein Namensschildchen trug. Er sprach mit albanischem Akzent, wie Wegmann ihn von Fatmire kannte, auch wenn er bei ihr etwas milder klang. »Es ist eine Männerfreundschaft, die nun Früchte trägt und beweist, dass die Vorwürfe haltlos sind, die gegen Herrn Thaci aus der EU formuliert werden. Als sich beide kennenlernten, war noch nicht daran zu denken, dass Herr Thaci jemals Premierminister eines freien Kosovo sein würde. Die Annäherung der beiden Männer geschah also nur aus Gründen der Sympathie und nicht etwa, weil sich eine Seite von dieser Freundschaft irgendeinen materiellen Vorteil versprach.«
    Wegmann wandte sich ab. Diese Sätze klangen zu sehr nach auswendig gelernt, und er konnte das dümmliche Geschwafel aus dem Munde dieser Pressesprechertypen nicht mehr hören. Außerdem war er nicht wegen des Baus der Hochspannungsleitung hier, sondern wegen des Codex Sinaiticus, und darüber würde er in dieser Runde wohl nichts in Erfahrung bringen.
    Er sah sich weiter im Zelt um und suchte Sabine von Alvensleben. Sie stand neben dem Eingang und unterhielt sich angeregt mit dem deutschen Entwicklungshilfeminister. Ein Mann, der, als er noch auf der Oppositionsbank gesessen hatte, genau dieses Ministerium am liebsten abgeschafft hätte. Aber wie Zeiten, können sich auch Meinungen ändern, noch dazu, wenn es förderlich für die eigene Karriere ist.
    Wegmann ging auf die beiden zu und nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass der Minister sich von Böttgers Sekretärin gerade verabschiedete und anschließend das Zelt verließ. Frau von Alvensleben gehörte jetzt also ihm ganz allein.
    »Hallo Henry«, empfing ihn die attraktive Brünette und stellte den schwarzen Pilotenkoffer neben ihre Füße. »Ich darf doch Henry zu Ihnen sagen, oder?«
    »Ich habe nichts dagegen. Dann darf ich Sie Sabine nennen?«
    »Natürlich.«
    Wegmanns Blick huschte zu ihrem Koffer. Zu gerne hätte er ein Auge auf den Inhalt geworfen, aber bei dem Aufgebot an Sicherheitsleuten käme das einem Selbstmordversuch gleich.
    »Haben Sie Ihre Geschichte schon fertig, oder soll ich Sie erst noch mit einigen Leuten bekannt machen?«, bot Sabine von Alvensleben an.
    »Das wird nicht notwendig sein«, entschied Wegmann. »Ich glaube, dass ich schon einen guten Eindruck von der Atmosphäre hier gesammelt habe und die Fakten kann ich ja Ihrer Pressemappe entnehmen. Haben Sie eine für mich?«
    Sabine von Alvensleben bückte sich nach dem Koffer und hob ihn an. »Natürlich. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
    Sie ging zu einem kleinen Tisch und öffnete ihren Pilotenkoffer. Wegmann konnte nicht anders. Er streckte sich auf die Zehenspitzen und riskierte einen Blick. Zwei Leitzordner und Dutzende loser Blätter.
    »O, das tut mir aber leid«, bedauerte Sabine von Alvensleben. »Ich habe im Moment keine gebundene Ausgabe mehr. Aber wenn Sie mit dem Entwurf zufrieden sind, könnte ich Ihnen den überlassen. Ansonsten gebe ich noch ein weiteres Druckexemplar in Auftrag.«
    »Nein, danke«, sagte Wegmann und ließ sich ganz langsam wieder auf die Fußsohle herunter.

Weitere Kostenlose Bücher