Havelgeister (German Edition)
Bremer zum Dach. »Sie verlangt ausschließlich nach Ihnen. Kommt ihr jemand anderes zu nahe, will sie springen.«
Bremer warf einen Seitenblick auf den Polizisten. Der Gesichtsausdruck des Mannes verriet, dass er der Ankündigung der Frau ohne Abstriche Glauben schenkte. »Wie ist sie denn aufs Dach gekommen?«
»Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit. Sie muss die Luke genommen haben, die sonst der Schornsteinfeger benutzt.«
»Und?«
Der Polizist stieß viel Luft durch die Nase. »Sie lässt sich von nichts und niemandem beeindrucken, spielt lieber Kate Winslet für Arme.« Auch er hatte offensichtlich sofort die Verbindung zu dem Kinoklassiker hergestellt.
Bremer überquerte die Fahrbahn, den Polizeiführer immer im Schlepptau. In Höhe des Sprungkissens der Feuerwehr drehte er sich noch einmal zu seinem Begleiter um. »Was ist mein Job?«, fragte er, obwohl er genau wusste, was man von ihm wollte.
»Ich lass Sie da hochbringen und dann machen Sie, was Sie für richtig halten. Aber holen Sie die Frau runter und wenn es geht lebend.«
Bremer sah dem Beamten direkt in die Augen. »Haben Sie schon ihre Tochter benachrichtigt?«
»Dazu müssten wir erst einmal wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Das ist Emmi. Emmi Strathmann, achtzig Jahre alt, wohnt in der dritten Etage, gleich neben mir.«
»Verstehe. Macht sie das öfter?«
Bremer musste kurz nachdenken. Wenn er jetzt ja sagen würde, könnte der Polizist einen falschen Schluss ziehen. Andererseits wollte er ihn aber auch nicht belügen. Er entschloss sich, die Frage zu ignorieren. »Ich glaube, ich gehe jetzt mal zu ihr. Die Ärmste friert sonst in ihrem dünnen Nachthemd.«
Bremer kam vollkommen außer Atem an der Dachluke an, durch die ein Polizeibeamter in Zivil seit einer guten halben Stunde versuchte, Emmi Strathmann davon zu überzeugen, dass es besser sei, wenn sie sich zu ihm gesellen würde. Nach einigen Worten der Erklärung kletterte der Beamte die schmale Leiter herunter und überließ Bremer seinen Posten. »Viel Glück«, sagte er und nickte ihm aufmunternd zu.
Rasch stieg Bremer die Leiter hoch. »Emmi, ich bin’s«, rief er und klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Dachziegel. »Komm rein, du wirst dich sonst erkälten mit deinem dünnen Hemdchen.«
Emmi stand etwa drei Meter von Bremer entfernt, nur mit knöchelhohen Hausschuhen und einem Baumwollnachthemd bekleidet. Die alte Frau winkte ihm freundlich zu.
»Du hast Recht, Doktorchen. Es ist inzwischen extrem ungemütlich hier oben. Außerdem macht mich die verdammte Singerei schon richtig heiser.«
Emmi drehte sich äußerst geschickt zu Bremer und begann, ohne den geringsten Wackler zur Luke zu laufen.
»Mach bloß vorsichtig«, warnte er, obwohl er nur zu gut wusste, dass dieser Hinweis so überflüssig war, wie der Rat, nicht am Himmel nach toten Vögeln Ausschau zu halten.
Emmi wohnte zwar erst seit ungefähr zwei Jahren in der Wohnung neben ihm, aber in dieser Zeit hatten sie sich gut kennengelernt. Emmi hatte ihm viel über ihr Leben erzählt. Unter anderem, dass sie viele Jahre mit ihrem Wohnwagen im Treck eines Zirkus’ durch ganz Deutschland gereist war und dabei ihren reichen Erfahrungsschatz an jüngere Seiltänzer und Seiltänzerinnen weitergegeben hatte.
»Wo warst du denn so lange? Ich hatte schon Angst, du hast mich vergessen.«
Bremer nahm Emmis Hand und half ihr, einen Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter zu setzen. »Ich musste Überstunden machen. Hättest du mit deinem Ausflug nicht warten können, bis ich hier bin?«
Als Emmi endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, trat sie mehrere Male fest auf die Dielen des Dachbodens. Dann ließ sie sich Bremers Jacke umlegen.
»Aber ich dachte doch, dass du schon zu Hause bist«, sagte sie. »Es kamen Geräusche aus deiner Wohnung.«
Bremer schüttelte den Kopf.
Misstrauisch musterte Emmi ihren Nachbarn. »Warst du wirklich noch nicht zu Hause?«
»Nein«, antwortete er.
Aus einer dunklen Ecke kamen Schritte. »Wir haben Ihre Tochter erreicht, sie wird gleich kommen.« Der Polizeiführer betrachtete Emmi mit einem Blick, der am ehesten als versöhnlich zu bezeichnen war.
»Das ist nett, junger Mann«, sagte Emmi und legte ihre durchgefrorene Wange an die warme von Bremer. »Der sieht aber gut aus«, flüsterte sie. »Wäre er nichts für Nelly?«
Bremer löste sich von seiner Nachbarin und verzog seinen Mund zu einer Schnute. »Emmi! Deine Tochter ist verheiratet und hat erwachsene
Weitere Kostenlose Bücher