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Haveljagd (German Edition)

Haveljagd (German Edition)

Titel: Haveljagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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dem Steinguttopf.
    »Es gibt nur den Vorwurf. Als die Polizei aufkreuzte, um den Computer zu beschlagnahmen, war der weg.«
    »Kurt war schon immer gerissen.«
    »Nein, nein. Jemand muss in das Blockhaus eingebrochen sein, als meine Eltern zu einem Termin bei ihrem Anwalt in Berlin waren. Der Einbrecher hat außerdem den Fernseher und die Mikrowelle mitgenommen.«
    Michaelis wischte sich die feuchten Finger an der Serviette ab.
    »Wollen Sie damit sagen, dass es keinerlei Beweise für sein Tun gibt?«
    »Jedenfalls kann die Polizei keine präsentieren.«
    Michaelis strich sich über seine Halbglatze. »Aber dann gibt es doch auch keine Anklage.«
    »Nein«, bestätigte Nina.
    »Und damit auch keinen Grund, sich das Leben zu nehmen.«
    »Auch das nicht. Ich habe von Anfang an nicht an Selbstmord geglaubt. Mein Vater hätte möglicherweise sich selbst erschossen, das weiß ich nicht. Aber auf keinen Fall meine Mutter.« Sie musste schlucken, denn ihre Stimme begann etwas zu zittern. »Er hat sie vergöttert wie eine Heilige.«
    Michaelis schob die Unter- über die Oberlippe. »Waren sie wegen dieser Vorwürfe beim Anwalt?«
    »Ich weiß es nicht. Aber es wäre denkbar.«
    »Wissen Sie, wo ich diesen Anwalt finden kann?«
    Mit der sogenannten Denkerfalte zwischen den Augenbrauen senkte sie den Blick, dann sah sie ihn wieder an. »Sie erreichen ihn neuerdings sogar in Brandenburg. Er hat sein Büro in der Steinstraße. Der Mann heißt Malte Richter.«

9
    An der Kreuzung zögerte er. Ursprünglich wollte er zurück nach Brandenburg, aber irgendetwas ließ ihn zögern. Er warf einen Blick nach rechts, bog dann aber doch nach links ins eigentliche Dorf ab. Die Sonne kam jetzt von hinten, blendete ihn also nicht.
    Er sah noch immer Tim vor sich. Taff, wortgewandt und Herr über seine eigenen Gedanken. Michaelis mochte solche Kinder. Er bewunderte sie sogar, diese kleinen Helden, die trotz ihrer Widerspenstigkeit nicht unsympathisch auf ihn wirkten. Und in diese Schublade packte er auch Tim, der zweifelsohne von Nina rund um die Uhr umsorgt war, ohne dass sie empört die Arme hochriss, wenn er mit klebrigen Fingern daherkam. Und Tim dankte es ihr, mit seiner kindlichen Frische, mit dem Vermögen, einen eigenen Willen nicht nur zu entwickeln, sondern sich auch dafür einzusetzen, ohne dabei Grenzen zu übertreten.
    Ihm selbst war das nicht vergönnt gewesen, für ihn war es oft besser gewesen, mit seinen Gedanken hinterm Berg zu halten, wenn sie von denen des Vaters abwichen, was häufig der Fall war, und dann setzte es in der Regel Prügel. Diskussionen waren nicht erlaubt. Heute, mit fünfundsechzig, war er sicher, dass er deshalb viele Jahre verloren hatte, die er im Laufe seiner Entwicklung mühsam und mit viel Lehrgeld wettmachen musste.
    Vor dem Dorfkrug hielt er an und stand wenig später in der Gastwirtschaft. »Guten Tag«, murmelte er und setzte sich an einen freien Tisch an der Wand. Niemand erwiderte seinen Gruß, alle hielten sich nur an ihrem Bierglas fest. Er war halt ein Fremder.
    »Was kann ich Ihnen denn bringen?« Die Bedienung war hübsch, und sie war jung. Höchstens achtzehn, schätzte er und lächelte sie an.
    Dann gab er seine Bestellung auf. »Einen kalten Weißwein, keinen Riesling bitte und vielleicht eine Bockwurst.«
    Sie steckte ihren Block in die Gesäßtasche der Jeans zurück und beugte sich über den Tisch. Mit zwei, drei Handbewegungen waren alle Krümel verjagt. »Oh, Wein haben wir nicht. Hier haben wir nur Bier und Schnaps. Aber ich kann Ihnen auch ein Radler mixen, wenn Sie das wollen.«
    »Dann das Radler und besser ein Pärchen Bockwurst.«
    »Okay«, sagte sie und wandte sich zur Küche. Schon mit einem Bein durch die Tür drehte sie sich noch einmal um. »Mit Brot?«
    Er war zu überrascht, um gleich zu antworten, aber nach einem kurzen Moment fing er sich. »Wie bitte? Ach so … ja, mit Brot, oder was haben Sie noch?«
    »Nur Brot«, antwortete sie und glitt durch die Schwingtür.
    Michaelis sah sich um. Der Raum war dunkel und hatte keine Seele. Wie er fand, hatten Räume ohne Bücher generell keine Seele und das galt auch für Kneipen. Sein Stammlokal, die Theaterklause in der Grabenstraße, hatte diesen Gedanken kürzlich aufgegriffen und jetzt eine kleine Auswahl an deutschsprachiger Literatur auf den Fensterbrettern.
    Aber hier? Hier gab es nichts zu sehen, und auch die vier Glücksritter in der anderen Ecke boten keine wirkliche Alternative zu der vorherrschenden Leere. Sie

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