Havelsymphonie (German Edition)
Zeit später zog Manzetti seinen Lodenmantel über und verließ die Direktion. Hinter dem Gebäude des Oberlandesgerichts bog er rechts ab und lief über den neuen Parkplatz. Er lief, bis ihn an der Nicolaikirche die Dunkelheit für jedermanns Auge verschluckt hatte. Allerdings sorgte die vor ihm liegende Neuendorfer Straße für genügend Orientierung, denn der rege Fahrzeugverkehr war nicht nur ein sich hastig bewegender und stinkender Wurm, sondern auch ein großzügiger Lichtspender.
Als er fast die graue Betontreppe erreicht hatte, sah er ganz kurz einen roten Punkt vor sich. Dann überdeckte eine andere Wahrnehmung diesen optischen Reiz, und er konzentrierte sich ganz auf den Geruch in seiner Nase, der von einer Rauchwolke vor ihm stammte. Es roch gut, sogar sehr aromatisch, fand der Nichtraucher Andrea Manzetti. Irgendwie nach Vanille, wenn ihn nicht alles täuschte.
Im Vorbeigehen blickte er in das schwach beschienene Gesicht des Pfeiferauchers und nickte dem Mann wohlwollend zu, obwohl er ihn überhaupt nicht kannte. Es war nicht mehr als ein Reflex. Plötzlich blieb er abrupt stehen.
„Guten Abend“, grüßte er den Mann, der noch immer an seiner Pfeife zog und dicke, wohlriechende Wolken aus den Backen presste. Manzetti wurde das Gefühl nicht los, dass er an den Tabakwolken den gleichen Spaß hatte, wie seine kleine Paola an selbst erzeugten Seifenblasen. Er sah ihn genauer an. Der Mann war klein, vielleicht nur einen Meter sechzig, und hatte sehr eng nebeneinander stehende Augen. Nur die Nasenwurzel verhinderte, dass sich beide Augäpfel zu einem riesigen Zyklopenauge vereinigten.
„Wohnen Sie hier?“, fragte Manzetti, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
Der kleine Mann, der sein kindliches Gesicht jetzt etwas mehr in den hellen Schein der Straßenlaternen rückte, zeigte mit dem ausgestreckten linken Arm zur gegenüberliegenden Häuserzeile. Auch darüber schien er sich zu amüsieren, denn die Bommel seiner Pudelmütze sprang lustig hin und her.
„Da drüben also.“ Manzetti blickte auf das Gebäude, in dem das Betreute Wohnen untergebracht war. Der Mann schwieg weiter, nickte aber ein einziges Mal und sehr ernsthaft, fast ein wenig zackig.
„Da möchte ich auch hin. Würden Sie mich begleiten?“, fragte Manzetti und bekam wieder jenes Nicken, das nach preußischen Maßstäben nicht zu beanstanden war.
„Da wohnt doch auch der Mario, oder? Kennen Sie den Mario? Und kann ich mit ihm sprechen?“
Der Mann ließ den Arm sinken, in dessen Hand er noch immer die Pfeife hielt, und trat bis auf einen Meter an Manzetti heran. Dann vollführte sein Kopf drei schmissige Bewegungen hintereinander. Manzetti hatte gut aufgepasst.
Ein Nicken: Mario Schmidt wohnt auch dort.
Ein weiteres Nicken: Der kleine Mann kennt Mario.
Ein Kopfschütteln: Manzetti kann nicht mit Mario sprechen.
„Dann lassen Sie uns gehen“, sagte er und wartete auf die nächste Kopfbewegung des Kleinen. Der aber klopfte die Pfeife aus, trat solange auf der vor ihm liegenden Glut herum, bis er sie fast nach Neuseeland befördert hatte, und vergrub dann die Pfeife tief in einer Tasche seiner Jacke.
Jetzt ergriff er die Hand des neuen Freundes und zog ihn bis zum Straßenrand. Dort beugte er sich weit nach vorn, guckte mehrmals hastig nach links und rechts, und als kein Auto mehr kam, rannte er los, den hundertzwanzig Kilo schweren Manzetti im Schlepptau. Erst vor der Tür des Hauses, in dem er mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe wohnte, stoppte er völlig außer Atem.
„Nicht so viel rauchen, mein Lieber“, bemerkte Manzetti. Eine weitere Kopfbewegung bestätigte diesen guten Rat.
Oben landeten die beiden schließlich in einem netten kleinen Büro, mit hellen Kiefernmöbeln eingerichtet, die aussahen, als wären ihre Hölzer erst gestern geschlagen worden. Ein junger Mann kochte Tee und begrüßte Manzetti und dessen Führer, der noch immer die Hand des Polizisten festhielt.
„So, Arno. Nun lass mal deinen Freund los und geh auf dein Zimmer. Hände waschen und so weiter.“
Arno nickte und ging, nicht ohne an der Tür seine Pudelmütze abzunehmen und sich tief zu verbeugen. Das Licht der Stehlampe spiegelte sich dabei auf einer Halbglatze.
„Wie alt ist er denn?“, fragte Manzetti beim Anblick des spärlichen Haarwuchses.
„Arno? … Ich glaube fünfzig.“
„Er sieht viel jünger aus.“
„Das tun sie hier alle“, erwiderte der junge Mann und goss das heiße Wasser über die Teebeutel. „Wollen Sie
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