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Havelsymphonie (German Edition)

Havelsymphonie (German Edition)

Titel: Havelsymphonie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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auch einen?“
    Manzetti nickte, genau einmal.
    Der junge Mann musste schmunzeln. „Ich sehe, Sie haben sich schon sehr ausführlich mit Arno unterhalten.“
    „Das habe ich“, bestätigte Manzetti. „Wie lange lebt Arno denn schon hier?“
    „Lange.“ Der junge Mann stellte zwei Tassen auf einen flachen Couchtisch. „Aber nun sagen Sie mir doch endlich, wer Sie sind und warum Sie all diese Fragen stellen?“
    Manzetti war seine Unhöflichkeit augenblicklich peinlich, und so kramte er unbeholfen seinen Dienstausweis hervor. Er hatte ganz vergessen, sich vorzustellen, als Arno ihn an der Hand in das Zimmer gezogen hatte.
    „Nehmen Sie doch Platz“, sagte der junge Mann und stellte auch noch eine Zuckerdose auf den Tisch. „Möchten Sie überhaupt Zucker?“
    Manzetti schüttelte den Kopf, ein einziges, kurzes Mal, und als sein Gegenüber wieder schmunzeln musste, sagte er schnell: „Nein, danke.“
    Aus der Kanne verteilte sich derweil der Duft nach Himbeere oder Waldfrucht. So genau war das nicht einzugrenzen.
    „Ich heiße Manzetti und untersuche einen Mordfall, mit dem Mario Schmidt leider in Berührung gekommen ist“, stellte er sich mit Blick auf seinen Ausweis vor. „Ich erzähle Ihnen gleich mehr davon. Aber sagen Sie mir bitte auch, wer Sie sind?“
    „Ich heiße Christian Wagner und bin Zivildienstleistender. Wenn Sie so wollen, bin ich für die Bewohner hier so etwas wie die Mutter, der große Bruder und auch der Spielgefährte aus der Nachbarschaft. Universell verwendbar.“
    „Nicht schlecht“, musste Manzetti zugeben. „Und nicht wenig Verantwortung.“
    „Ja, aber um darüber zu reden, werden Sie ja nicht hierher gekommen sein.“
    „Nein, natürlich nicht. Wie viele Bewohner leben hier eigentlich?“
    „Sechs.“
    „Sind sie alle so … ich meine …“, stotterte Manzetti und deutete mit dem Kinn zur Tür.
    „Sie meinen, ob alle so sind wie Arno?“
    Als Manzetti wieder nickte, glaubte er für einen Moment an Telepathie oder irgendwelchen anderen Zauber, der von Arno ausgehen musste.
    „Ja. Alle sind wie Arno, denn nur dann dürfen sie hier leben. Wenn sie noch schlimmer dran sind, werden sie draußen auf dem Görden verwahrt.“
    Manzetti kannte die Klinik in der Saefkowallee, die im Volksmund nur Klapper genannt wurde. Er war oft genug dienstlich dort gewesen.
    „Und Mario?“
    „Mario“, der Zivi sah plötzlich durch Manzetti hindurch, „Mario ist anders. Er ist etwas ganz Besonderes.“
    „Warum arbeiten Sie gerade hier?“, fragte Manzetti und griff nach der Teetasse.
    „Man muss mal alles probiert haben“, sagte der Zivi. „Außer Inzest und Verkehrsunfälle.“
    „Außer Inzest und Verkehrsunfälle?“, wiederholte Manzetti verblüfft. Solch eine Antwort hatte er noch nicht bekommen.
    „Ja, außer Inzest und Verkehrsunfälle. Arno zum Beispiel ist das Produkt einer verbotenen Geschwisterliebe und sein Zimmerkumpel Torsten hatte einen schweren Verkehrsunfall mit multiplen Kopfverletzungen. Ansonsten sind sich Arno und Torsten aber in ihrem Denken und Verhalten sehr ähnlich.“
    „Ich komme mal auf meine Frage zurück. Wie lange ist Arno denn nun schon hier?“
    „Genau weiß ich das nicht. Aber ich glaube, seit fast zwanzig Jahren. Man hatte ihn als Kleinkind neben der Autobahn gefunden. Einfach ausgesetzt wie eine Katze. Danach lebte er lange bei einer alten Frau, die ihn auch pflegte. Als die dann starb, kam Arno hierher.“
    „Und Mario?“
    „Mario ist mit seiner Behinderung zur Welt gekommen, und wenn ich mich richtig erinnere, sind seine Eltern mit ihm überfordert.“
    „Überfordert?“, fragte Manzetti vorsichtig.
    „So jedenfalls nennen sie es.“ Der Zivi stellte seine Teetasse vor sich ab. „Ich glaube aber, dass sie ihn nur nicht wollen. Er passt nicht in ihre heile Welt der Vorgärten und Spitzengardinen.“
    „Ist das Ihr ganz persönliches Urteil?“
    Christian Wagner zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Wenn sie aber wirklich nur überfordert wären, dann würden sie ihr Kind lieben und es wenigstens regelmäßig besuchen. Das aber haben sie in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr getan. Ich jedenfalls habe sie noch nie gesehen.“ Er blickte zur Wanduhr. „Essenszeit, wenn Sie mir helfen, können wir anschließend weiterreden.“ Er stand auf, ging zur Tür und drehte sich erwartungsvoll zu Manzetti um.
    Der zog endlich seinen Mantel aus, legte das Sakko ab und folgte dem Zivi in eine geräumige Wohnküche. Dort warteten schon

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