Havelsymphonie (German Edition)
Solotrompeter einzunehmen?“, fragte Hendel, während er durch heftiges Winken ein neues Glas bestellte.
„Ja.“
„Das glaube ich nicht. Das passt nicht zu unserem Orchester. Die machen Musik miteinander, nicht gegeneinander. Nein. Keiner der Musiker kommt für Sie als Täter in Frage.“
Davon war Manzetti allerdings noch nicht so überzeugt, verzichtete aber darauf, ihm zu widersprechen. „Sagt Ihnen die Zahl 50 etwas?“
„In welcher Hinsicht?“
„Hat die Zahl 50 irgendeine Bedeutung für Ihr Haus, für das Orchester oder explizit für Carolin Reinhard?“
Der Intendant schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Aber ich werde mich erkundigen.“
„Und ein Verehrer? Vielleicht kommt ein verschmähter Verehrer in Frage? Sie war sehr hübsch.“
„Und an wen haben Sie da gedacht?“ Hendels Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Nicht an eine bestimmte Person. Aber an einen sehr gebildeten Täter. Einen Mann mit Kunstverstand.“
„Warum das?“, wollte Hendel jetzt wissen. Er fand langsam Gefallen an dem Gespräch und beugte sich leicht nach vorn.
„Ein Mann, weil der Tatort mit dem Fundort nicht identisch ist. Soviel können wir schon sagen. Also muss jemand die Leiche vor die Theaterklause getragen haben, und die junge Frau wog zu Lebzeiten knapp sechzig Kilo. Da muss man also gut zupacken können.“
„Und warum gebildet und mit Kunstverstand?“, stocherte Hendel nach und kam damit zu dem wesentlich interessanteren Teil der Frage.
„Eben wegen dieser Inszenierung, wenn ich das so ausdrücken darf. Sie lag auf einem Tisch und hatte ihre eiskalten Hände in einem Muff. Da kam Bremer und mir gleich die Idee von der sterbenden Mimi. Deswegen gebildet, denn mit La Bohème kann nicht jeder etwas anfangen.“
„Che gelida manina“, summte Hendel.
„Richtig. Alles andere passt allerdings nicht zu La Bohème.“
„Was gibt es da denn noch für Auffälligkeiten?“
Normalerweise müsste Manzetti die Unterhaltung jetzt stoppen, denn es handelte sich um Täterwissen, was nicht unbedingt nach draußen gegeben werden sollte. Aber Hendel hatte einen sehr merkwürdigen Blick, seine Augen schienen ihn in weite Ferne zu tragen. Manzettis Erfahrungen drängten ihn zum Weitermachen, denn der Mann dachte sicherlich nicht ohne Grund so hochkonzentriert nach. Vielleicht konnte er ihm weiterhelfen.
„Unter ihrem Kopfkissen lag ein vergilbtes Blatt“, sagte er und verschwieg wenigstens den biologischen Namen des Baumes, von dem es stammte. „Außerdem fanden wir auf ihrem Gesicht Rückstände von Gips und Olivenöl. Das passt natürlich gar nicht zu Mimi, und deshalb ist der Zusammenhang zu der Puccini-Oper vielleicht auch bloß eine verrückte Idee von uns.“
„Nicht so voreilig, und alle Achtung, Herr Manzetti.“ Hendel erhob sogar sein Glas. „Und der Gedanke an die Bohème schoss Ihnen gleich am Tatort durch den Kopf?“
„Am Fundort“, verbesserte Manzetti.
„Wirklich alle Achtung, mein Lieber. Sie sind auf dem richtigen Weg, wie mir scheint.“
„Müsste dann nicht alles passen? Ein Mörder, der sich solche Mühe mit einem Bild gibt, das er quasi für uns, für die Öffentlichkeit kreiert, der hält sich an jedes Detail, denn er kopiert. Hier weichen aber sehr viele Dinge ab, und so wird vielleicht auch der Muff lediglich ein Zufall sein.“
„Was weicht denn von La Bohème ab?“, fragte Hendel mit hochgezogenen Augenbrauen. „Sie meinen, weil in Puccinis Oper Mimi an Weihnachten stirbt und nicht im November und weil im Libretto steht, dass Mimi ihr rotes Häubchen immer unters Kopfkissen legt und nicht ein vergilbtes Blatt?“
„Ja, genau.“ Manzetti glaubte plötzlich in den Augen des Intendanten ein Funkeln zu erkennen, das oftmals Vorbote genialer Gedanken ist.
„Das ist fantastisch. Ja, das ist sogar genial, es ist grandios“, schwärmte der Intendant, stand auf und schloss den völlig überrumpelten Manzetti in die Arme. „Herr Manzetti, Sie haben es wirklich mit einem gebildeten Menschen zu tun. Mit einem sehr gebildeten sogar. Ich bin begeistert. Es geht gar nicht um Mimi!“ Hendel brach fast in Euphorie aus. „Es geht hier um Franziska.“
Manzetti konnte dem Intendanten nicht folgen. Der saß inzwischen wieder ruhig auf seinem Stuhl, auf den Manzetti ihn geschoben hatte. „Wer ist Franziska?“, fragte er ihn.
„Die Vorlage sozusagen. Puccinis Vorlage. Der Komponist hat mit La Bohème einen alten Stoff aufgegriffen, mit dem sich schon andere
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