Havelsymphonie (German Edition)
hätte er denn erst mal schnell die Zeitung in den Briefkasten des Zeugen stecken und anschließend schnell mal einen Mord begehen und die Leiche kompliziert in Szene setzen können? Und außerdem ist Schmidt Autist.“
„Oh, das ist natürlich etwas ganz anderes. Sehr delikat.“
„Und behindert mich ungemein“, fügte Manzetti hinzu.
„Das glaube ich Ihnen gerne. Er wird nicht mit Ihnen reden, oder?“
„Er redet mit überhaupt niemandem, reagiert nicht mal auf andere Menschen. Nur auf seinen Kumpel, und der ist auch geistig behindert.“
„Ich verstehe. Sie sind eigentlich nur hergekommen, weil Sie wissen wollen, wie Sie zu Autisten vordringen können.“
Manzetti schwieg.
„Ausgeschlossen, mein Lieber. Das schaffen Sie nicht. Aber vielleicht sein Arzt. Er muss doch einen behandelnden Arzt haben.“
„Wer könnte das sein?“ Ein Hoffnungsschimmer an Manzettis dunklem Horizont.
„Das kann ich nicht sagen … Aber warten Sie, ich habe mal etwas gelesen über eine Methode …“ Bremer stand auf und ging zu seinem mächtigen Bücherregal. „Wo habe ich sie denn?“ Er bückte sich und zog in Kniehöhe eine Schublade auf. „Hier.“ Er hielt eine Zeitschrift in der Hand. „FC“, las er mit faltiger Stirn.
„Was ist FC?“ Manzetti trat näher heran.
„Facilitated Communication“, sagte Bremer, nachdem er sich bis zu dem Artikel durchgeblättert hatte.
„Und was soll das sein?“
„Das heißt soviel wie gestützte Kommunikation. Entwickelt von der australischen Pädagogin Rosemary Crossly. Dabei wird entweder der Arm oder eine Hand des Autisten geführt, also gestützt, und so ist er zu Handlungen fähig, die er allein nicht ausführen könnte.“
Manzetti nahm Bremer die Zeitschrift ab. „Und wie soll das funktionieren?“
„Der Führer ist das Medium. Er gibt dem Arm des Autisten die notwendige Energie, und dann kann der zum Beispiel über eine Computertastatur quasi selbst schreiben.“
„Geht das mit allen Autisten?“
„Sie müssen natürlich schon lesen und schreiben können“, warf Bremer ein.
„Und die sogenannte Vertrauensperson? Muss die auch lesen können?“ Manzetti musste natürlich an Arno denken.
„Das weiß ich nicht. Aber es ist bestimmt von Vorteil.“
„Das werde ich schon noch rauskriegen. Kann ich die Zeitschrift mitnehmen?“
„Ja. Aber ich kriege sie wieder.“
„Natürlich“, versprach Manzetti.
„Ich habe da noch etwas. Ihr Hals. Auf die nackte Haut war mit schwarzer Ölfarbe eine Kette gezeichnet. Und der Anhänger ist eine 50.“
„Und?“
„Was und?“
„Was sagt uns das?“
„Mir nichts, aber ich bin auch nicht der Kriminalist. Vielleicht liegt ja die Antwort bei der Toten selbst? Wissen Sie schon etwas über die Frau?“
Manzetti klärte den Arzt mit knappen Sätzen auf, erzählte auch über die Theaterbesuche von Mario mit seinem Zivi und die damit einhergehende Wahrscheinlichkeit, dass Mario Schmidt die Trompeterin Carolin Reinhard zumindest bereits gesehen hatte.
„Vielleicht doch der Zeitungsbote?“, fragte Bremer. „Er könnte ein stiller Verehrer von ihr gewesen sein und hat sich in Puccinis Rodolfo verwandelt, in dessen Armen die schöne Mimi stirbt.“
Manzetti schüttelte heftig den Kopf. „Rodolfo war kein Mörder. Mimi starb an Schwindsucht.“
Bremer schwieg. Manzetti aber schlug ein Bein über das andere und ließ seinen Gedanken weiter freien Lauf. „So wie Sie argumentiert auch Claasen. Aber Mario Schmidt ist hochgradig behindert. Der kann nach Aussage seines Betreuers nicht lesen und schreiben, obwohl er glaubt, dass Mario es lernen könnte.“
„Wenn er nicht lesen kann“, entgegnete Bremer, „wie verteilt er dann die MAZ?“
„Ganz einfach. An jedem Briefkasten, in den eine Zeitung muss, klebt ein Aufkleber mit dem markanten Logo des Blattes. Das könnte selbst ein Kleinkind.“
„Täuschen Sie sich nicht, Manzetti, und bringen Sie Autisten nicht in die Nähe von Kleinkindern.“ Wieder erhob Bremer symbolisch den Zeigefinger, und Manzetti hatte das Gefühl, als hätte er auch die zweite Wange hingehalten.
„Es gibt Autisten, die hervorragend Klavier spielen.“ Und zur Verdeutlichung tickerte er ein kurzes Klavierintermezzo in die Luft.
6
Als Manzetti ohne weitere Störungen endlich zu Hause angekommen war, küsste er seine Frau und die beiden Töchter. Er war aber gedanklich noch so weit weg, dass er gar nicht bemerkte, dass drei Reisetaschen im Flur standen, und tat stattdessen ganz
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