Havelsymphonie (German Edition)
mal rekapitulieren, was wir bisher haben.“
Sonja wollte etwas sagen, aber Manzetti bedeutete ihr mit der ausgestreckten Hand, den jungen Kollegen nicht zu unterbrechen.
„Es war doch Marianne Walter, Mitarbeiterin beim Jugendamt und Mutter der ermordeten Birgit, die sie ins Heim stecken ließ.“
Manzetti stand auf und stellte sich ans Fenster, wo er das Zepter übernahm. „Genauer gesagt, veranlasste sie, dass der Fall vors Amtsgericht gebracht wurde. Und Richter Manfred Reinhard wies sie zwangsweise in dieses Kinderheim ein. Gehen wir einmal davon aus, dass diese Gisela Goldberg unsere Täterin ist, dann wird klar, dass ihre Opfer als Erinnerung an ihre Zeit im Heim der barmherzigen Schwestern diese Anstaltskleidung tragen mussten.“
„Aber warum die Töchter? Warum nicht Reinhard und die Walter selbst?“, wandte Sonja ein. „Und warum soll es ausgerechnet Gisela Goldberg gewesen sein? Nur weil es der einzige Name ist, den wir kennen?“
„Na gut“, gab Manzetti zu. „Es kann auch jede andere gewesen sein. Nennen wir sie stellvertretend Gisela Goldberg. Okay?“
Sonja schüttelte den Kopf. „Und wenn es nun doch keine Heiminsassin war?“
„Mein Gott, Sonja! Kannst du kompliziert sein. Hast du vielleicht eine andere Spur? Lass uns doch erst einmal sehen, wohin uns diese führt. Die ist doch sehr vielversprechend.“ Köppen bekam dafür Zuspruch von Manzetti.
„Wenn es also eines von den ehemaligen Heimkindern war, dann muss diese Frau über viele Jahre einen unbändigen Hass aufgebaut haben. Einen, den sie nicht mehr unter Kontrolle hatte, nicht vor fünfzehn Jahren, als sie Birgit Walter tötete, und nicht vor kurzem, als sie Carolin Reinhard ermordete.“
Nun meldete sich Sonja wieder zu Wort. „Aber das werde ich schon noch fragen dürfen: Warum tötet sie die Töchter? Die können doch nichts dafür.“
„Versetz dich in die Lage dieser Frau. Sie ist siebzehn, in der Blüte ihres Lebens und wird in ein Heim gesteckt, also ihrer Freiheit beraubt. Das allein kann schon ursächlich für Hass sein. Dann wird sie hinter den Mauern der Anstalt schrecklich behandelt, was den Hass weiter schürt, und schließlich passiert etwas, das all ihre Emotionen zur Explosion bringt.“
„Und was sollte das gewesen sein?“
„Gisela Goldberg war schwanger.“
„Nimmst du das jetzt nur an oder weißt du es, Andrea?“
„Ich habe einfach kombiniert. Reinhard hat mir bei unserem gestrigen Besuch gebeichtet, welche Rolle er in diesen Verfahren der Zwangseinweisungen gespielt hat. Er hat auch behauptet, dass ihn eine Frau vor gut einem Jahr anrief, ihm drohte und ihn nach Dortmund bestellte.“
„Womit kannst du einem Richter denn drohen?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht Rechtsbeugung? Jedenfalls ist er hingefahren und hat sich mit der Frau vor diesem Heim getroffen.“
„Und?“
„Mehr hat er mir dazu nicht verraten, aber ich glaube, dass er mir wieder einiges verschwiegen hat. Trotzdem hat er mir ungewollt einen Hinweis gegeben.“
Als Manzetti auf eine Taste seines Diktiergerätes drückte, erklang die Stimme von Manfred Reinhard: „Sie hat gesagt, dass sie uns das Gleiche antun werde, was wir ihr damals angetan hätten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Manzetti klickte das Gerät aus.
Sonja durchbrach die anschließende Stille. „Und wer ist uns ?“
Manzetti drehte sich etwas zur Seite und setzte sich auf den Fenstersims. „Marianne Walter und Manfred Reinhard. Sie hat ihre Drohung wahrgemacht. Sie hat die Kinder der beiden getötet.
Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gisela Goldberg schwanger war, als sie eingeliefert wurde. Vielleicht hat man sie auch genau deshalb in ein Heim gesteckt? Und dann hat man ihr das Kind weggenommen.“
„Das würde diesen Hass erklären.“
„Noch nicht ganz, Sonja. Denn unbeteiligte Kinder, nämlich Birgit und Carolin zu töten, dazu braucht es mehr als diesen Hass.“ Manzetti ging zu seinem Schreibtisch, wo er sich ein Glas Wasser eingoss. „Dazu musst du fast hysterisch sein, dazu muss dein Hass zu einer Triebkraft werden, die nichts und niemand mehr aufhalten kann. Die Walter und Reinhard müssen das Kind der Goldberg getötet haben.“ Manzetti stand wie angewurzelt, als ob ihn seine eigene Erkenntnis überrumpelt hätte, und hielt dabei das Wasserglas noch immer in der Hand.
„Das klingt ja ungeheuerlich, könnte aber die Erklärung dafür sein, warum er sich nach der Bedrohung durch die Frau in Dortmund nicht an die Polizei
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