Havelsymphonie (German Edition)
bestellt wurde.“
„Und da sind Sie so einfach hingefahren?“, fragte Manzetti ungläubig.
„Was sollte ich denn machen? Die Frau hat mir am Telefon gedroht.“
„Eine Frau?“
„Ja, eine Frau. Ich weiß aber nicht, wer sie ist. Bei unserem Treffen trug sie eine Perücke und eine Sonnenbrille.“
„Und?“, fragte Manzetti, dessen Ungeduld mit jeder Sekunde wuchs.
„Nichts und … Sie ging mit mir zu diesem Heim. Für gefallene Mädchen, geführt von Vincentinerinnen, einem Orden barmherziger Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul.“
„Und was passierte dort?“ Manzetti konnte noch immer keinen Bezug zu Carolin Reinhard herstellen. Was hatte die junge Musikerin mit einer Sache zu tun gehabt, die fünfzig Jahre zurücklag?
„Sie hat mich beschimpft und erneut bedroht. Diese Frau steckte offensichtlich voller Hass. Sie hat gesagt, dass sie uns das Gleiche antun werde, was wir ihr damals angetan hätten. Auge um Auge, Zahn um Zahn.“
„Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“
Reinhard sah auf, zuckte aber bloß mit den Schultern.
„Herr Reinhard, das verstehe ich nicht. Sie werden bedroht und ergeben sich dann Ihrem Schicksal? Was ist das denn für ein Quatsch? Da steckt doch noch mehr dahinter, oder sollte ich mich an dieser Stelle irren?“
„Es ist nichts weiter. Und wie hätten Sie die Frau denn finden wollen?“
Manzetti glaubte dem alten Mann kein Wort, aber was sollte er tun? Hier kam er nicht weiter, musste also etwas anderes ansprechen. „Sie sagten: Was wir ihr angetan haben. Wer ist wir ?“
„Das habe ich noch nicht herausgefunden“, räumte Reinhard ein und putzte sich die Nase.
Manzetti holte seinen Notizblock heraus und blätterte darin. Er konnte sich denken, wer wir ist. „Kennen Sie eine Birgit Walter?“
„Nein, wer soll das sein?“, fragte der Richter und sah zu Manzetti.
„Auch eine Musikerin, die vor fünfzehn Jahren auf die gleiche Weise getötet wurde, wie Ihre Tochter. Nur eben in Hamburg.“
17
Es war Sonjas Idee. Sie hatte in stundenlanger Kleinarbeit alles in ihren Computer getippt, was sie zu diesem Fall bislang hatten, und dann gemeinsam mit ihrem Oliver eine komplizierte Suchstrategie entwickelt, die jegliche Verknüpfung von Personen, Orten oder Zeiten miteinander aufspüren konnte. Bei Birgit Walter und Carolin Reinhard hatte sich nach einem langen Suchlauf ein kleines profanes Fenster geöffnet und die frohe Botschaft verkündet. Treffer, hieß die in Arial und Schriftgröße 16. Treffer!
Der Computer hatte die Gemeinsamkeiten der beiden jungen Frauen erkannt, die über ihre Ermordung an ihrem dreißigsten Geburtstag hinausgingen. Es gab zu ihrer Überraschung auch einen Zusammenhang zwischen Carolins Vater und Birgits Mutter.
„Sie waren beide an der Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen beteiligt“, verkündete Sonja und rieb sich müde die Augen.
„Sie sind nicht inhaftiert worden. Sie kamen in ein Heim“, korrigierte Manzetti, der aber Verständnis für Sonjas Wortwahl hatte. Sie war auf Grund ihres Alters eben noch dichter dran am Schicksal von Jugendlichen.
Schließlich hielten sie eine Liste von achtzehn jungen Mädchen in der Hand, die ihnen die Dortmunder Kollegen sehr schnell zur Verfügung gestellt hatten und die lediglich die Mädchen aufzählte, die durch Manfred Reinhard und Marianne Walter in das Heim in der Oesterholzstraße eingewiesen worden waren.
Achtzehn Namen, achtzehn Schicksale. Aber leider hatte man ihnen keinerlei Hinweise geben können, wo die Frauen heute aufzufinden waren. Ihre heutigen Familiennamen und ihre aktuellen Adressen hatten auch sie auf die Schnelle nicht ermitteln können.
Aber man hatte ihnen die kopierten Seiten eines Tagebuches mitgeschickt. Es handelte sich offenbar um die Niederschriften eines jungen Mädchens, das über ihre sieben langen Jahre im Heim berichtete. Es war hinter einem Mauerstein einer Zimmerwand versteckt, wo man es vor einigen Jahren bei Umbauarbeiten gefunden hatte.
Der Name des jungen Mädchens war nicht bekannt, er ging auch nicht aus den Aufzeichnungen hervor. Aber Köppen, den Manzetti beauftragt hatte, das fast vierhundert Seiten umfassende Tagebuch zu lesen, war in den Einträgen auf den Namen ihrer Freundin gestoßen. Ihrem Schicksal, so wie die unbekannte Schreiberin es dargestellt hatte, ging er dann besonders nach, denn sie war 1957 in das Heim gekommen. Das alles hatte zwei volle Tage gedauert, aber es hatte sich gelohnt. Sie hielten nun viele
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