Havelsymphonie (German Edition)
Seiten Bericht in den Händen. Sonja fasste sie zusammen.
„Unsere Unbekannte hatte also eine Freundin, die Gisela hieß. Die kam 1957 ins Heim und nimmt von da an eine zentrale Rolle in dem Tagebuch ein.“ Sonja unterdrückte ein Gähnen. „Und das einzige Mädchen, das 1957 in das Kinderheim dieser barmherzigen Schwestern gebracht worden war und den Vornamen Gisela trug, war eine gewisse Gisela Goldberg.“ Sie nippte an ihrem Kaffee.
„Warum konzentrieren wir uns so auf das Jahr 1957?“, fragte Köppen.
„Wir gehen von 1957 aus, weil uns die Zahl fünfzig an Carolins Kette, die fünfunddreißig bei Birgit und auch die Bemerkung von Manfred Reinhard quasi dazu zwingen.“ Sonja bekräftigte ihre Aussage durch ein heftiges Nicken, das jeden Widerspruch im Keim erstickte, und fuhr dann fort. „Also, Gisela Goldberg kam im Februar 1957 in dieses Heim und blieb bis …“ Sie stockte, denn sie musste kurz zwischen ihren Zetteln wühlen.
Manzetti saß währenddessen an seinem Schreibtisch und hielt ein Foto hoch, das eines dieser Heimmädchen in Anstaltskleidung zeigte. Das Mädchen war etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, trug ein wadenlanges Kleid mit Puffärmeln, das bis oben zugeknöpft war, und darüber eine Schürze, unter der ihre Brust flachgedrückt wurde.
„Zumindest wissen wir nun, dass die Bekleidung der beiden Toten nichts mit La Bohème zu tun haben soll, sondern offenkundig mit diesem Heim“, bemerkte Manzetti. „Der Mörder hat Carolin Reinhard und Birgit Walter vielleicht in diese Kleider gesteckt, um auf die Anstalt hinzuweisen.“ Er legte das Foto wieder hin.
„Und ich glaube, sie trugen sie bereits, bevor sie getötet wurden“, sagte Köppen und ging zu einer Magnettafel. Dort zeigte er auf ein Bild, das bei Bremer im Institut aufgenommen worden war. Darauf war Carolin Reinhard auf einem Metalltisch liegend zu sehen.
„Schauen Sie sich die Stichwunde an. Der Stichkanal geht durch die Schürze bis ins Herz. Wäre dem Opfer die Kleidung post mortem angezogen worden und hätte der Täter dann erst den Brieföffner eingestochen, hätte es nicht mehr diesen Blutfleck gegeben.“
„Das stimmt“, lobte Manzetti. „Also hat der Täter seine Opfer wohl nicht überrascht und sofort getötet, sondern für einen gewissen Zeitraum gefangen gehalten.“ Er betrachtete Sonja, die noch immer zwischen den Zetteln die richtige Information über Gisela Goldberg suchte, und fuhr dann fort: „Warum sprechen wir eigen t lich immer von einem Täter? Warum nicht von einer Täterin?“
„Und an wen denkst du dabei?“
„An eine dieser Heiminsassinnen natürlich. Sie könnte mit Elliott Silbermann irgendwie gemeinsame Sache gemacht haben. Jedenfalls in Brandenburg. Für Hamburg war er ja wohl noch zu jung. – Lasst uns mal zusammentragen, was wir über diese Frau herausgefunden haben, deren Namen wir zu kennen glauben.“
„Sie wurde 1957 eingeliefert“, sagte Sonja, die offensichtlich wieder Ordnung in ihre Notizen gebracht hatte. „Nach einer Verlegung 1959 nach Hamm, kam sie 1960 wieder zurück in das Dortmunder Heim, aus dem sie 1961, bereits volljährig, entlassen wurde. Einige Zeit danach gibt sie bei der Dortmunder Polizei eine Vermisstenanzeige nach einer gewissen Franziska Goldberg auf. Und dann taucht sie in den Annalen der Behörden erst wieder auf, als sie 1965 in die USA auswandert.“
„Wann hat sie die Vermisstenanzeige gestellt?“
„1963.“
„Und wer soll diese Franziska Goldberg sein?“
Nun kramte Manzetti in dem Stapel Papier, fand auch die Anzeige, aber das brachte sie nicht weiter. „1963 war das Computerzeitalter noch nicht angebrochen. Hier ist alles nur mit Hand oder der Schreibmaschine notiert. Aus den Unterlagen geht nicht hervor, wer diese Franziska war. Das eingetragene Geburtsdatum ist völlig unleserlich. Außerdem hat man die Suche nach einem halben Jahr erfolglos eingestellt.“
„Warte mal.“ Sonja schob Manzetti samt Stuhl zur Seite. Flink wie ein Wiesel tippte sie nun auf der Tastatur, bis sich die Seite von Google öffnete und sie den Namen Franziska Goldberg eingeben konnte. „Nichts“, musste sie enttäuscht feststellen, als die Suche abgeschlossen war. „Es hätte ihre Mutter sein können, oder?“
„Die hieß Anna Goldberg. Steht jedenfalls so in den Unterlagen.“ Köppen war jetzt wieder hellwach. „Wisst ihr, was mich viel mehr interessiert, als diese Vermisstenanzeige?: Wie kam diese Gisela eigentlich ins Heim? Lasst uns doch
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