Havelsymphonie (German Edition)
gerade noch, wie Sonjas Hand sich in der Kapuze von Julia Küppers Anorak verkrallte und den kleinen Körper unsanft nach hinten riss.
„Ihre Kolleginnen kommen wohl nicht mit rein?“, fragte Frau Walter erstaunt, als sie Manzetti im Wohnzimmer einen Platz anbot.
„Sieht nicht so aus. Sie scheinen die Zeit nutzen zu wollen, um interne Dinge zu besprechen.“
„Sie kommen wegen meiner Tochter?“ Die alte Frau Walter kam ohne Umschweife und mit einem ziemlich gleichgültigen Gesichtsausdruck zum Kern.
„Ja. Oder besser auch.“
„Hat denn die Polizei in Hamburg die Ermittlungen nicht eingestellt?“
„Bei Mord“, Manzetti setzte sich in den angebotenen Sessel, „stellen wir die Ermittlungen nie ein. Wir lassen sie allerdings mitunter ruhen, bis neue Erkenntnisse auftauchen.“
„Und die glauben Sie nun zu haben?“ Frau Walter erinnerte Manzetti mit ihren kalten Augen und dem erzwungenen Lächeln sofort an seine alte Deutschlehrerin, die ihm mit einem ähnlichen Gesichtsausdruck während der Abiturprüfung erklärt hatte, sie sei von den Leistungen des Prüflings alles andere als beeindruckt.
„Ja, ich bin sogar überzeugt davon, dass wir neue Erkenntnisse haben. Und deshalb bin ich hier.“ In dieser Aussage schwang etwas Trotz mit.
„Wenn Sie meinen.“ Frau Walter setzte sich ebenfalls. „Ich habe aber schon alles gesagt, was ich weiß. Außerdem hatten wir keinen Kontakt mehr zu Birgit.“
„Wir?“, fragte Manzetti mit nun nachsichtiger Stimme.
„Mein Mann und ich.“
„Könnte ich mit Ihrem Mann auch noch sprechen?“ Manzetti hoffte, dann auf einen gesprächigeren Zeitgenossen zu treffen.
„Der ist auf dem Friedhof.“
„Vielleicht, wenn er wiederkommt?“
„Der ist schon vier Jahre auf dem Friedhof“, antwortete sie und verschluckte dann fast ihre Lippen.
„Entschuldigung. Das habe ich nicht gewusst …“
„Was wollen Sie von mir?“ Die Frau beugte sich in ihrem Sessel provokant nach vorn. „Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ist das wirklich zu viel verlangt?“
„Im Moment ist es das. Aber keine Angst, ich will eigentlich gar nichts über Ihre Tochter wissen.“ Manzetti formulierte in einem Ton, der dem von Frau Walter verdächtig nahekam. „Ich habe einen Mord aufzuklären, in dem Sie und ein Richter mit dem Namen Manfred Reinhard eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen scheinen.“ Manzetti beobachtete sie ganz genau, konnte aber keine Gefühlsregung feststellen. „Und glauben Sie mir, ich kann verdammt hartnäckig sein, wenn ich das Gefühl habe, dass mich jemand dabei behindert.“
„Wollen Sie mir drohen?“
„Nein. Aber ich möchte eine Mörderin stellen, bevor sie ein weiteres unschuldiges Opfer umbringt. Und falls uns das nicht gelingt, könnten Sie dann mit der Last leben, daran eine gewisse Mitschuld zu tragen?“
„Schon gut“, räumte Frau Walter kleinlaut ein. „Ich rede mit Ihnen, auch wenn mich Ihr Appell an mein Gewissen nicht im Geringsten beeindruckt. Aber wie Richter Reinhard es mir ankündigte, hat man bei Ihnen wirklich den Eindruck, dass Sie nicht nur Ihrer beruflichen Pflicht nachgehen, sondern den Fall aufklären wollen, um weitere Morde zu verhindern. Darin kann ich Sie unterstützen. Und allein deshalb rede ich mit Ihnen.“
Manzetti war beeindruckt. Und sprachlos zugleich, denn das hätte er nun wahrlich nicht erwartet. Hatte diese Frau doch so etwas wie Verantwortungsbewusstsein?
„So etwas hat übrigens der Richter auch bekommen. Einen Tag nach dem Tod seiner Tochter. Wie bei mir.“ Sie stand auf, ging quer durch das Zimmer und blieb vor einem Schrank stehen. Mit einem quietschenden Geräusch öffnete sie eine kleine Tür und holte eine weiße Gesichtsmaske heraus.
„Was ist das?“ Manzetti griff behutsam nach der Maske, die Frau Walter ihm hinhielt.
„Das ist der Gesichtsabdruck von Birgit. Wie schon gesagt, hat der Mörder auch von Carolin Reinhard eine Maske angefertigt und einer perfiden Idee folgend an Richter Reinhard geschickt. Quasi in Erinnerung an einen lieben Menschen.“
„Warum haben Sie die Maske nicht sofort der Polizei gegeben?“
„Das ist meine Tochter, Herr Manzetti. Hätten Sie mir dieses Beweismittel, wie es bei Ihnen so schön heißt, unbeschädigt zurückgegeben?“ Frau Walter ließ Manzetti mit dieser Frage allein und verschwand kurz in die Küche. Sie kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Tassen, eine Kaffeekanne und eine Schale mit einer bunten Keksmischung
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