Havelsymphonie (German Edition)
kirchlichen Einrichtung anders sein, der ein Problem mit einem Abschnitt seiner Geschichte hat, greift gelegentlich zum Reißwolf. Dafür wurden die Dinger doch erfunden, oder?“
„Kann sein. Hier hat das Jugendamt einen großen Teil der Unterlagen mitgenommen, und was die nicht haben wollten, nahmen sich die Schwestern des Ordens, als sie Dortmund verließen. Es ist nichts mehr da, Herr Manzetti. Aber wir können Sie durch die Räumlichkeiten führen und versuchen, Ihnen dabei einen Eindruck zu vermitteln, wie es damals hier aussah und zugegangen sein mochte.“
Sie wartete nicht auf seine Zustimmung, sondern griff zum Telefon und bestellte einen Herrn Neumann zu sich. Der brauchte nur drei Minuten und stellte sich ihm als Heimleiter vor. Nachdem Manzetti sich von der Oberin verabschiedet hatte und dem Heimleiter bereits in den Flur hinaus gefolgt war, glaubte er noch immer, ein warmes Lächeln im Nacken zu spüren.
„Wir haben vieles umgebaut.“ Der Heimleiter zeigte auf die Gebäude, von denen sie umgeben waren, als sie draußen auf dem Hof an der kleinen Kapelle vorbeigingen. „Die Flure und Zimmer sind hell und bunt gestrichen, alle Türen sind offen und alle Fenster haben jetzt Griffe.“
„Hatten sie denn früher keine?“ Manzettis Verwunderung war unüberhörbar.
„Schauen Sie da hoch“, bat der Heimleiter und deutete mit dem ausgestreckten Arm nach oben. „Die Fenster dort hatten keine Griffe. So wollte man verhindern, dass die verzweifelten Mädchen aus größerer Höhe heruntersprangen, um sich das Leben zu nehmen.“
Der Heimleiter führte Manzetti in ein Gebäude, wo sie genau durch die Flure gingen, die zuvor von ihm beschrieben worden waren. Die angrenzenden Zimmer sahen so aus, wie man sich Kinderzimmer vorstellt. Sie unterschieden sich kaum von dem der kleinen Paola Manzetti. „So sah das früher leider nicht aus. Alles war dunkel und kalt. Schon das Äußere spiegelte die Härte wider, mit der hier regiert wurde und die einem den Mund offen stehen ließ. Man verhängte drakonische Strafen für kleinste Vergehen, über die man auch noch Buch führte.“
„Wofür zum Beispiel?“
Der Heimleiter sah erst betreten zu Boden, dann mit festem Blick in Manzettis Augen. Aus diesem Blick sprach Verachtung, blanke Verachtung für Menschen, die hier Gott sei Dank nicht mehr Dienst taten. „Weil sie unerlaubt miteinander gesprochen haben.“
Nach einem kurzen Schweigen schilderte er weiter das, was er inzwischen in Erfahrung gebracht hatte. Das meiste wusste er von Ehemaligen, wie er die Mädchen nannte, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hier gefangen gehalten worden waren und die als Erwachsene oft mit ihren Therapeuten die Stätte ihrer Pein wieder aufsuchten.
„Es gab hier ein perfides Repressionssystem. Für alles gab es Prügel. Schläge, um die Mädchen zum Gebet zu zwingen. Schläge, um sie zur Arbeit zu zwingen oder zum Schweigen. Und geprügelt wurde offenbar mit allem, was man greifen konnte, sogar mit Teppichklopfern oder Besenstielen.“ Neumann schüttelte den Kopf.
„Wo finde ich diesen Orden denn jetzt?“
„Ich glaube in Paderborn. Aber genau weiß ich das nicht.“
„Sie sprachen vorhin von Ehemaligen. Haben Sie auch Namen? Ich müsste unbedingt mit diesen Frauen reden.“
„Ich kenne längst nicht alle, aber zu einer Frau halte ich regelmäßig Kontakt. Sie organisiert Treffen der Ehemaligen und engagiert sich auch sonst für deren Belange.“
„Wie erreiche ich sie denn?“
Der Heimleiter angelte aus seiner Brieftasche eine abgewetzte Visitenkarte. „Sie wohnt ganz in Ihrer Nähe. In Rathenow glaube ich.“
Als Manzetti wieder draußen auf der Straße stand, zwang er sich, sich nicht noch einmal umzudrehen. Er wollte seine Gefühle nicht überlagert wissen von diesem heutigen, von diesem liebevollen Kinderheim. Er wollte, um Gisela Goldberg verstehen zu können, die Oesterholzstraße mitnehmen, wie sie vor fünfzig Jahren ausgesehen und funktioniert hatte.
20
„Wird sie wieder zu dir ziehen?“ Manzetti klammerte seinen Blick fest an Sonjas Lippen.
„Wer?“, fragte sie zurück, sich noch immer ihrer Macht bewusst und der sich daraus entwickelnden Chance, wenigstens einmal den Chef ein bisschen zappeln zu lassen. Diesen Moment galt es, so lange wie möglich auszukosten.
„Na, Lara. Wird sie wieder einziehen bei dir oder bleibt sie zu Hause?“
„Das weiß ich doch nicht“, behauptete Sonja, um einen möglichst gleichgültigen Ton
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