Havelsymphonie (German Edition)
standen.
Manzetti angelte sich eine Schokowaffel. „Wir haben ein Tagebuch bekommen, in dem eine unbekannte Heiminsassin über ihre Erlebnisse in einem Dortmunder Kinderheim berichtet. Sie schreibt darin auch über ihre Freundin Gisela, und wir glauben, dass es sich dabei um Gisela Goldberg handeln könnte. Sagt Ihnen der Name etwas?“
„Goldberg“, wiederholte Frau Walter fast unhörbar und ging wieder zu dem kleinen Schrank, wo sie die Maske verstaute und ein dickes schwarzes Notizbuch herausfischte. „Gisela Goldberg … warten Sie, ich glaube, ich weiß wer das ist.“ Sie nahm wieder gegenüber Manzetti auf dem Sessel Platz.
„Ja, ich erinnere mich.“ Ihr rundlicher Finger blieb zwischen zwei vorderen Seiten des Notizbuches hängen. „Genau. Im Februar 1957 hatten wir endlich genug von dieser Göre Gisela Goldberg. Der war nichts und niemand heilig. Sie war damals siebzehn und der Meinung, selbst entscheiden zu dürfen, wann und wie oft sie zur Schule ging und wann sie von den nächtlichen Ausflügen zu ihrer hoffnungslos überforderten Mutter zurückkehrte. Und das ruft auch heute noch das Jugendamt auf den Plan.“ Sie richtete einen selbstsicheren Blick auf Manzetti.
„Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf?“ Manzetti nahm sich seine Tasse mit duftendem Kaffee. „Nur weil ein Kind nicht regelmäßig zur Schule geht, wird es doch aber nicht sofort von den Eltern weggerissen und in ein Heim gestopft.“
„Sie gehen von völlig falschen Voraussetzungen aus“, konterte Frau Walter. „Es handelte sich bei diesen Kindern nicht um normale Kinder. Sie waren verhaltensgestört, sie neigten zu Verbrechen und sie mussten auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden. Nehmen Sie die Goldberg. Ich selbst habe sie bei den Eltern abgeholt und in das Heim der barmherzigen Vincentinerinnen gebracht. Ein Mädchen, das bockig war wie ein Esel und mit knapp siebzehn Jahren schon schwanger.“
„Das habe ich vermutet.“
„Was haben Sie vermutet?“
„Dass sie schwanger war ... Welchen Namen hat sie ihrem Kind denn gegeben? Wissen Sie das zufällig?“
„Sie hat dem Kind überhaupt keinen Namen gegeben. Das wäre ja noch schöner gewesen. Dazu hatte sie nun wirklich kein Recht. Die ehrwürdigen Schwestern tauften das Mädchen Franziska und gaben es in ein anderes Heim, wo es ordentlich aufwachsen konnte.“
„Und dann?“, stocherte Manzetti weiter, der plötzlich glaubte, dass ihm die Zeit wie in einer Sanduhr durch die Finger rinnen würde. „Das Jugendamt blieb der Vormund, und wir gaben die Kleine in die Hände einer sauberen Pflegefamilie, wo sie auch blieb.“
„Wie heißen die Leute, und wo finde ich sie?“ Manzetti sprach so schnell, dass er sich fast verschluckte.
„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Außerdem ist das Ganze fünfzig Jahre her“, erinnerte ihn Frau Walter und trank dann genüsslich ihren Kaffee.
Manzetti stand auf. Er sah bedrohlich aus. „Ich muss es wissen. Diese Pflegeeltern können die nächsten Opfer sein.“
Marianne Walter schüttelte seelenruhig den Kopf. „Das können sie nicht. Beide sind nämlich schon lange tot, und diese Franziska hat sich 1987 das Leben genommen. Aber was sollte man auch erwarten bei einem Abkömmling dieser Goldberg.“
Darauf wollte Manzetti lieber nicht antworten, stattdessen rechnete er blitzschnell nach. Franziska Goldberg war 1957 geboren worden, war also dreißig, als sie Suizid begangen hatte. Carolin Reinhard und auch Birgit Walter waren an ihrem dreißigsten Geburtstag getötet worden.
„Wissen Sie, wann genau Franziska sich das Leben nahm?“
„Ich sagte es doch schon. 1987.“ Frau Walter ließ sich offenbar von Manzettis Nervosität nicht anstecken.
„Und wann genau?“
„Ich bin nicht ganz sicher, glaube aber, dass es sogar an ihrem Geburtstag passierte.“
„Eben. Und deshalb muss ich den Namen der Pflegefamilie haben. Wenn da noch jemand lebt, der erst dreißig wird, dann könnte der das nächste Opfer sein.“
„Nein“, behauptete Frau Walter mit Vehemenz. „Da ist nur noch der Sohn von Franziska und der ist demnach der Enkel dieser Goldberg. Sie wird ihn wohl kaum umbringen.“
„Und wie heißt der?“ Manzetti, der in dieser Situation sogar bereit war, auf Knien zu rutschen, bettelte wie ein kleines Kind.
„Das weiß ich nun wirklich nicht.“
„Sagen Sie mir den Namen der Pflegefamilie! Bitte!“
„Na gut.“ Endlich gab Frau Walter nach und strich eine andere Seite ihres Notizbuches glatt. „Die
Weitere Kostenlose Bücher