Havelsymphonie (German Edition)
bemüht.
„Lüg mich bitte nicht an.“ Er konnte einfach nicht glauben, dass Kerstin derartig wichtige Entscheidungen nicht abgesprochen hatte, also quasi dem Zufall überließ. Als er mit Sonja nach Dortmund gefahren war, hatte Kerstin Lara zurückgeholt. Der Fürsorge wegen, hieß es. Was würde aber nun passieren? Würde seine Tochter ihm weiter ausweichen? „Also, was ist nun?“
„Sie wird bei euch bleiben. Aber du solltest …“
„Wenn Sie sich bitte anschnallen würden.“ Die Stewardess lächelte und zeigte mit dem knallrot lackierten Fingernagel auf Manzettis Bauch.
„Mache ich.“ Er nickte und nahm sich wieder das Tagebuch. Er wollte wenigstens mal reingelesen haben, bevor er in Rathenow auf die Frau treffen würde, die ihm der Heimleiter in Dortmund als Gesprächspartnerin empfohlen hatte. Sonja würdigte er keines Blickes mehr. Jedenfalls vorerst.
In ihrem Tagebuch beschrieb das unbekannte Mädchen zunächst, warum sie überhaupt in dieses Heim gekommen war.
Die Maschine beschleunigte und als sie abhob, krampften sich Sonjas Finger in die Armlehne des Sitzes. Manzettis Finger hielten völlig entspannt das Buch.
Ich höre Elvis Presley und fühle, er spricht mir aus der Seele , stand da in einer Schrift, wie man sie in längst vergangenen Tagen in Poesiealben junger Mädchen fand. Elvis, dachte Manzetti. An den hatte er auch geglaubt, selbst wenn er sich eingestehen musste, dass er von jeher der klassischen Musik den Vorzug gegeben hatte. Aber Elvis war eben Elvis, eine Lichtgestalt und für manche ein Guru. Allerdings konnte Manzetti sich kaum vorstellen, dass man wegen einer musikalischen Vorliebe ins Heim kam.
Er las weiter. Das Mädchen schilderte in unverkennbarer Handschrift, dass sie oft, ja fast täglich, in Plattenläden ging, um sich die Musik ihres Gottes anzuhören, zum Kaufen fehlte ihr das Geld, und vor allen Dingen, um zu träumen.
Ich ging in eine der Kabinen, in denen ich mit Elvis ganz allein war und ungestört seine neuesten Platten hören konnte. Ich hatte immer ein Foto von ihm dabei, das ich ganz fest an mich drückte, während ich mir vorstellte, dass er für mich ganz allein sang.
Manzettis Finger verharrten über diesem Absatz. Es war die Schwärmerei einer Fünfzehnjährigen und Manzetti nicht ganz unbekannt, seit Tokyo-Hotel Einzug in die Kinderzimmer seiner Töchter gehalten hatte.
Die unbekannte Tagebuchschreiberin erzählte dann von ihrem Zuhause. Einfach war es, aber es gab ein Radio. Doch hatte die Mutter verboten, hiermit diese Negermusik zu hören. Er überlegte: Das muss sie sehr getroffen haben. Sie vergöttert Elvis und ihre Mutter beschimpft ihn, den Hohepriester.
Aber die Mutter war nicht die einzige, die so auf den Sänger reagiert hatte. Ausgerechnet dieser Ami , hatte eine Nachbarin lautstark im Hausflur gewettert. Man braucht sich ja nur seinen teuflischen Hüftschwung anzusehen!
Da hatte Manzetti verstanden. Die lieben Nachbarn hatten Gefahren gewittert, sexuelle Gefahren, und wohl nur noch nach einem Anlass gesucht, um das Jugendamt einschalten zu können, wodurch Frauen wie Marianne Walter ins Spiel gekommen waren. Und bei einer alleinerziehenden Mutter war dieser manchmal schnell gefunden. Vielleicht hatte sie das Kind einmal längere Zeit als geplant alleinlassen müssen?
Auch Mutter hatte Angst vor Frau Göhring, die immer unangemeldet kam. Sie war eine hässliche alte Frau mit einem Haarknoten im Nacken und einer schweren Aktentasche. Aus der zog sie eines Tages einen Zettel, den sie Mutter gab, und als sie fertig gelesen hatte, nahm mich Frau Göhring mit.
Manzetti klappte das Buch zu und schloss die Augen. Wie viel war wohl dran an diesen Schilderungen? Entsprachen sie der Realität damals oder waren sie dem Frust eines jungen Mädchens entsprungen, das in ein Heim eingewiesen worden war?
Nach der Landung in Berlin-Tegel ließ sich Manzetti über die Autobahn direkt nach Brandenburg bringen, nicht in die Direktion, sondern nach Hause. Kerstin hatte einen Tag freigenommen, und so konnten sich beide in aller Ruhe mit einem Kaffee hinsetzen, denn die Mädchen waren noch in der Schule.
„Deinen Humor schätze ich am meisten.“ Manzetti lächelte, nachdem er sich den aromatischen Kaffeeschaum von der Oberlippe geleckt und lange überlegt hatte, welches Kompliment er seiner Frau heute machen konnte.
„Und wie kommst du jetzt darauf?“
„Einfach so.“
„Na, gut, dann mach aber weiter: Was schätzt du sonst noch an mir?“
Er
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