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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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Einsamkeit eintauchen, konnte sich auf das Niveau holen, das es ihm erlaubte, später wieder mit anderen Menschen in Kontakt zu treten.
    Schon in frühester Kindheit galt er als Sonderling, als jemand, dem es eher schwerfiel, mit anderen Menschen umzugehen. So sahen das jedenfalls seine Eltern ab jenem Tag, als sie ihn in ihren Streit hineinzogen. Für ihn aber war es, als stoße man den Nichtschwimmer Andrea Manzetti genau in der Mitte zwischen Italien und Tunesien ins Meer. Jede Entscheidung in eine Richtung zu schwimmen, wäre die falsche gewesen.
    Der kleine Andrea war zuerst Wunschkind seiner Eltern, jenes Diplomaten, der für die Bundesrepublik in Rom gearbeitet hatte, und der italienischen Journalistin, die in Diensten des Fernsehsenders RAI gestanden hatte, um vom internationalen Parkett der Hauptstadt zu berichten.
    Angela Manzetti, einzige Erbin eines alten italienischen Adelsgeschlechts, hatte den Deutschen aber nicht geheiratet. Vielleicht hatte sie frühzeitig gemerkt, dass zwei willensstarke Persönlichkeiten, wie seine Eltern es waren, nicht miteinander harmonieren könnten. Sie hatten es immerhin mit einer „wilden Ehe“ versucht. Und mit dem ihnen eigenen Willen hatten sie verbissen an dem Lebensplan eines gemeinsamen Lebens mit eigenem Kind festgehalten.
    Aber es hatte nicht funktioniert. Andrea hatte also mit ansehen müssen, wie sich seine Eltern, die er gleichermaßen zu lieben glaubte, in steten Streitigkeiten ergingen und an ihm zerrten und zogen, bis endlich die kleine Kinderseele gebrochen war.
    Dann kam dieser Morgen, der sich unlöschbar in seine Gehirnrinde eingebrannt hatte. Die Eltern hatten den zehnjährigen Andrea schon auf dem morgendlichen Weg zur Toilette abgefangen und ihm die unglaubliche Frage gestellt: „Möchtest du bei deinem Vater oder bei deiner Mutter leben?“
    Ausgesprochen hatte es nur der Vater, aber es war ihre gemeinsame Frage, das hatte er ihren erwartungsvollen Gesichtern angesehen. Damit überforderten sie ihn, einen nicht einmal in der Pubertät befindlichen Jungen derart, dass er alle Konzentration aufbringen musste, um wenigstens den Inhalt der Frage zu verstehen. Er war immer wieder Wort für Wort durchgegangen, Vater oder Mutter, Mutter oder Vater, bis seine kleinen Füße in einer warmen Pfütze standen, die abstoßend nach ihm selbst gerochen hatte.
    Von da an passierte ihm das immer wieder, wenn auch nicht auf Fluren, aber in den Nächten, im Bett, wenn er Besuch bekam von den Geistern, die immer und immer wieder in den Träumen nach seinen kleinen Kinderarmen griffen. Es waren die beiden Frauen, die Gouverneursfrau und Grusche, denen er begegnet war, als er in den Ferien im Bücherregal seines Großvaters gestöbert hatte und ihm Bertolt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ in die Hände gefallen war. Von da an kamen Brechts Hauptfiguren wieder und wieder, und es hatte immer mit einem nassen Laken geendet.
    In seinen Träumen lag er inmitten jenes Kreidekreises und fühlte, wie die Gouverneursfrau und Grusche an ihm zerrten. Aber es endete nicht wie bei Brecht, wo Grusche losließ und damit die Liebe zu dem Kind belegte. In seinen Träumen hörten beide nicht auf zu zerren, sie zogen so stark, dass der Junge erbärmliche Schmerzen litt und seine starren Augen flehend an den Richter Azdak heftete. Doch der griff nicht ein.
    In seinen Träumen hatte Azdak das Aussehen und die Stimme seines deutschen Großvaters. Doch anders als der Richter im Traum hatte Großvater von Gneuen dem kleinen Andrea geholfen, er hatte ihn in seine Obhut genommen und ihn auf ein deutsches Internat geschickt. Die Wochenenden aber, die konnte er auf Wunsch des Großvaters bei Herbert Jahn verbringen, seinem Patenonkel, und bei dessen Frau Irene. Der weise Großvater wollte das so, weil er nicht nur mit Herbert befreundet war, sondern weil die Jahns drei Kinder hatten, für die Andrea der große Bruder sein konnte.
    Auch heute fand sich Manzetti immer mal wieder hin- und hergerissen, schrie in Gedanken nach seinem Großvater, schrie nach Gerechtigkeit und fühlte sich machtlos, zu keiner Bewegung fähig, weil mehrere Kräfte zur gleichen Zeit an ihm zerrten und zogen. Dann musste er mit sich allein sein. Wie auch morgens, wenn er unausgeschlafen aufwachte, weil ihn brüllende Träume von erholsamem Schlaf abgehalten, seine Zähne lautstark aneinander gerieben und Unmengen Schweiß sein Laken durchtränkt hatten. Dann musste er in seine Einsamkeit, in die ihn Kerstin seit

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