Havenhurst - Haus meiner Ahnen
uns Unannehmlichkeiten bereitet hat, und nicht andersherum. Ein Gentleman hätte das inzwischen längst eingesehen. Mr. Thornton ist jedoch kein Gentleman.“
Sie bedachte Ian mit einem gekonnt verächtlichen Blick und sagte: „Gute Nacht, Mr. Thornton.“ Dann drehte sie sich zu Jake um, und ihre Stimme klang ein wenig sanfter. „Guten Abend, Mr. Wiley.“
Nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten, ging Jake zum Tisch, wühlte in den Lebensmittelbeständen herum und holte Käse und Brot aus den Tüten. „Du solltest etwas essen, Ian“, sagte er.
„Ich habe keinen Hunger.“ Ian stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus.
Obwohl sich im oberen Stockwerk schon seit einer halben Stunde nichts mehr geregt hatte, schlug Jake das Gewissen, weil die Damen nichts zu essen bekommen hatten. „Soll ich ihnen etwas hinaufbringen?“
„Nein! Wenn sie etwas essen wollen, dann sollen sie es sich holen.“
„Wir sind aber nicht gerade sehr gastfreundlich zu den Damen, Ian.“
„Nicht gastfreundlich? Falls es dir entgangen sein sollte: Sie haben beide Schlafzimmer belegt. Das heißt, einer von uns muß auf dem Sofa schlafen.“
„Das Sofa ist zu kurz. Ich werde im Stall schlafen. Das habe ich früher auch immer getan. Macht mir nichts aus.“ Nachdem Ian nichts erwiderte, sondern wieder ins Dunkel hinausstarrte, fragte Jake vorsichtig: „Wärst du bereit, mir zu erzählen, wie es kommt, daß diese Damen überhaupt hier sind? Ich meine, wer sind sie eigentlich?“
Ian legte den Kopf zurück und massierte seine Nackenmuskeln. „Ich habe Elizabeth vor zwei Jahren auf einer Gesellschaft kennengelernt. Sie hatte gerade ihr Debüt hinter sich, war mit irgendeinem Adligen verlobt und wollte nun ihre weibliche List an mir ausprobieren.“
„An dir? Du sagtest doch eben, sie sei mit jemand anderem verlobt gewesen.“
Ian seufzte über die Naivität seines alten Freundes. „Debütantinnen sind andere Wesen als die Frauen, die du kennst. Zweimal im Jahr bringen ihre Mamas sie zum Debüt nach London. Während der Ballsaison werden sie vorgeführt wie die Pferde auf einer Auktion, und dann werden sie von ihren Eltern als Ehefrau an den Meistbietenden verkauft. Der Gewinner unter den Meistbietenden ist der Mann mit dem höchsten Titel und dem größten Vermögen.“
„Das ist ja barbarisch!“ meinte Jake verächtlich.
Ian bedachte ihn dafür mit einem ironischen Blick. „Verschwende dein Mitleid nicht. Die Debütantinnen haben gar nichts gegen dieses System. Alles was sie von der Ehe verlangen, sind Juwelen, Gewänder und die Freiheit, heimliche Affären mit wem auch immer zu haben, nachdem sie pflichtschuldigst den benötigten Erben auf die Welt gebracht haben. Solche Frauen kennen so etwas wie Treue oder aufrichtige menschliche Empfindungen nicht.“
Jake zog die Augenbrauen hoch. „Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals etwas gegen das Volk der Unterröcke hattest“, sagte er, weil er an die vielen Frauen dachte, die in den vergangenen beiden Jahren Ians Bett gewärmt hatten, schöne hochmütige Frauen, von denen viele ihre eigenen Adelstitel besessen hatten.
Nachdem Ian schwieg, setzte Jake das Gespräch selbst fort. „Weil wir gerade von Debütantinnen sprechen“, sagte er, „wie sieht es mit der Debütantin dort oben aus? Hegst du eine spezielle Abneigung gegen sie, oder lehnst du sie nur sozusagen aus Prinzip ab?“
Ian ging zum Tisch und schenkte sich einen Whisky ein. Er trank einen Schluck und zuckte die Schultern. „Miss Cameron war erfindungsreicher als viele ihrer hohlköpfigen Freundinnen. Sie hat mich bei einer Gartengesellschaft belästigt.“
„Das muß ja furchtbar lästig für dich gewesen sein“, scherzte Jake. „Ein Mädchen wie sie mit einem Gesicht, von dem Männer träumen, versucht, dich zu verführen und weibliche Tricks an dir auszuprobieren? Haben die Tricks damals übrigens fuktioniert?“
Hart stellte Ian das Whiskyglas auf die Tischplatte. „Sie haben funktioniert“, antwortete er kalt, und dann strich er das Thema Elizabeth aus seinen Gedanken, öffnete die Wildledermappe, die auf dem Tisch lag, entnahm ihr einige Papiere, die er durchsehen mußte, und setzte sich vors Feuer.
Jake versuchte seine Neugier zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht. „Was geschah dann?“ wollte er wissen.
Ian war schon in seine Dokumente vertieft. „Ich habe sie gebeten, mich zu heiraten“, antwortete er geistesabwesend. „Sie hat mir eine Note geschickt und mich
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